I. Die Gründungssage.
Am Unterlaufe des Tiberflusses, der iu der Mitte der Westküste Italiens
mündet, lag die Landschaft Latium, bewohnt von dem ackerbauenden Volke
der Latiner. Das ganze Gebiet zerfiel in 30 Gaue, die in einem Bundes¬
verhältnis standen. Die Leitung dieses Bundes hatte der Albauergau, und
in dessen Hauptstadt AlbaLouga fanden alljährlich die Bundesversammlungen
und die Bundesfeste statt.
In Alba Longa herrschte der Sage nach ein Königsgeschlecht, das seinen
Ursprung von dem trojanischen Helden Äne as und dessen Sohne Askänins
(Jnlns) ableitete. Ein König aus diesem Hause, Nümitor, wurde vou
seinem jüngeren Brnder Amülins entthront, der zwar den gestürzten König
am Leben ließ und ihm ein friedliches Leben auf feinen Gütern verstattete,
aber seine Familie ausrottete, indem er die Söhne umbringen ließ und die
Tochter Rhea Si'lvia zwang, Priesterin zn werden. Und als diese Mutter
von Zwillingssöhnen wurde, befahl er, die Kinder im Tiberslusse zu ertränken.
Ein Diener fetzte die Wanne, in der die beiden Knäblein lagen, in den hoch¬
geschwollenen Fluß, der sie forttrug, bis sie schließlich in den Wurzeln eines
wilden Feigenbaumes am Fuße des Berges Palatinus hängen blieb. Eine
Wölfin soll die Kinder gesäugt haben; nach einigen Tagen fand sie der Hirt
Faüstulus uud brachte sie seiner Gattin, die sich ihrer liebevoll annahm.
Als Hirtenknaben unter dem Namen Römnlns und Remus wuchsen die
Brüder zu kräftigen, kühnen Jünglingen heran. Als sie später das Geheimnis
ihrer Geburt erfuhren, überfielen sie, von zahlreichen streitbaren Hirten unter¬
stützt, den Thronräuber Amnlins, töteten ihn und hoben ihren Großvater
Numitor wieder auf den Thron. Zum Danke schenkte er ihnen den Berg
Palatinus und gestattete ihnen, dort eine neue Stadt anzulegen. Nun entstand
zwischen den Brüdern selbst ein Streit über das Recht, die zukünftige Stadt
zu benennen. Sie beschlossen, die Götter durch ein Zeichen entscheiden zu
lassen. Romnlus stellte sich auf dem Palatinus, Remus auf dem benachbarten
Aventlnns auf, und jeder hoffte, daß die Götter ihm günstige Zeichen durch
Vogelflug schicken würden. Remus erblickte zuerst sechs Geier, aber nach
langem Warten erschienen dem Romnlus zwölf Geier; damit war es
entschieden, daß er der Stadt den Namen geben sollte; er nannte sie
Rom (753).
Die neue Stadt war zu Ansang ganz ärmlich anzuschauen; auch Wall
Vogel, Geschichtsleitfaden für Quinta. 2. Aufl. 1