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das Kind, welches Mandane geboren hat, töte und begrabe es, wie
du willst." — Harpagos schauderte; aber er wagte nicht, dem Könige
zu widersprechen. Er antwortete: „Herr, ich habe dir immer ge¬
horcht; auch jetzt ist dein Wille Gesetz für mich." — Dann nahm er
das Kind und trug es nach Hause. Hier erzählte er seiner Frau, was
geschehen war. „Was gedenkst du nun zu thun?" fragte diese. Er
antwortete: „Ich werde dem Astyages nicht gehorchen, uud wenu er
noch zehnmal ärger wütete; denn wenn er stirbt, würde mich da nicht
Mandane zur Rechenschaft ziehen, daß ich ihr Kind getötet hätte?
Sterben soll es zwar, aber nicht durch mich." Er schickte zu einem
der königlichen Rinderhirten und ließ ihn zu sich kommen. „Sieh
hier das Kind," sprach Harpagos; „Astyages befiehlt dir, es im
ödesten Gebirge auszusetzen, damit es sobald wie möglich sterbe.
Zugleich läßt er dir sagen, daß du des schrecklichsten Todes sterben
solltest, wenn du es auf irgend eine Weise am Leben erhieltest.
Hörst du?" — Der Hirt verueigte sich, versprach alles und ging
mit dem Kinde weg.
Als er nach Hause kam, hatte seine Frau indessen mich ein
Kind bekommen, aber ein totes. Sie fragte ihn gleich, was er in
der Stadt gesollt habe. Da erzählte er ihr alles und fügte hinzu,
er habe auf dem Wege erfahren, daß das zum Tode bestimmte
Kind ein Sohn der Mandane sei. Die Frau schlug in ihre Hände,
und als sie erst das kleine Kind sah, wie es wohlgebildet und
freundlich dalag, umfaßte sie die Kniee ihres Mannes und bat unter
vielen Thränen, daß er es doch nicht aussetzen möchte. „Das muß
ich durchaus," antwortete er; „wie würde es mir sonst ergehen!
Mir ist der fürchterlichste Tod gedroht, wenn ich es nicht thäte,
und Harpagos will selbst kommen und nachsehen." — Da entdeckte
ihm die Frau, daß sie indessen ein totes Kind bekommen habe,
und bat ihn inständigst, dieses statt des kleinen Prinzen auszusetzen;
edas könne nie entdeckt werden. Der Hirte besann sich zwar lang;
er willigte aber endlich ein. Dem kleinen Prinzen wurden die schlechten
Kleider des Hirtenkindes angezogen und dagegen das tote Kind in die
goldenen Kleider des Prinzen gesteckt; dann wurde es hinausgetragen
und hingelegt. Nach einigen Tagen ging der Hirt in die Stadt zu