132. Nord- und Süddeutschland.
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3) Temperament. — Charakter. — Geistige Anlagen. —
Religion.
Am meisten aber gehen die Nord- und Süddeutschen in Bezug auf
Temperament und Anlagen des Geistes und Gemüths auseinander.
Kaltes Blut, Phlegma, melancholisches Temperament, größere Ruhe,
Vorherrschen des Verstandes, das sind Dinge und Eigenschaften, welche
man überhaupt vorzugsweise dem Norden im Gegensatz zum Süden
vindicirt, und diesen! schreibt man dagegen ein sanguinisches Tempe¬
rament, eine regere Phantasie, größere Fröhlichkeit, eine poetischere
Natur zu.
Der Nordländer, und so im gewissen Grade auch der Norddeut¬
sche, hat das ganze Jahr hindurch mit den rauhen Einflüssen der Na-
tur zu kämpfen. Er lebt mit ihr fast in einem feindlichen Verhältnisse.
Seine ganze Existenz ist eine viel künstlichere und berechnete. Er wird
zum Nachdenken gereizt, wie er sich im Hanse und am Heerde einen
gemächlichen Sitz bereiten, und wie er der dürftigen Natur möglichst
große Gaben und Vortheile abtrotzen möge. Darin liegt der Keim zürn
Erblühen der Künste und Wissenschaften im Norden.
Der Südländer, und so in mehr oder weniger hohem Grade auch
der Süddeutsche, lebt in und mit der Natur als ihr Freund. Er
wird ein Naturkind und nimmt den leichteren, unbefangeneren und un¬
bedachtsameren Sinn eines solchen an. Der Süddeutsche contrastirt in
dieser Beziehung mit dem Norddeutschen fast ebenso stark, wie der Ita¬
liener mit dem Deutschen überhaupt.
Dazu kommt nun noch die Einförmigkeit des flachen, sandigen,
sumpfigen, neblichcn Bodens von Norddeutschland, und der damit scharf
contrastirende mannichfaltige Schmuck der süddeutschen Landesnatur.
In den Bergen und Thälern von Süddeutschland, welche die Phan¬
tasie so mannichfaltig anregen, sind die meisten der schönen deutschen
Volkssagen entstanden. Dort sind die Hauptsitze und Quellen der deut¬
schen Volkspoesie. Das Nibelungenlied und überhaupt alle unsere älte¬
sten nationalen Dichtungen haben sowohl ihren Hauptschauplatz als
auch ihre Geburtsstütte in Süddeutschland. So lange die deutsche
Poesie noch wahre Volkspoesie, ein Geineingut Vieler war, blühte sie
(der Minnegesang, die Meistersänger) vorzugsweise in Süddentschland.
Erst als mit der Ausbildung unserer verfeinerten Schrift und Litera¬
tursprache Apollo vorzugsweise unter den Gebildeten und Gelehrten
sich seine Jünger erwählte, gingen aus Norddeutschland große Dichter
hervor.
Es fehlt dem Norddeutschen nicht an Volkswitz, allein sein Witz
ist mehr kritischer und beißender Natur. Der Witz des aufgeweckten
und drolligen Schwaben und Oesterreichers ist gemüthlicher, mehr
poetischer Natur. Die allgemein bekannten Producte des Berliner Witzes
und die eben so allgemein bekannten Erzeugnisse des Wiener Volkswitzes
können hier als Repräsentanten des Nordens und Südens gelten. Ein
größerer Frohsinn und eine größere Herzlichkeit geht so weit, als die