Full text: Von 102 vor Chr. bis 1500 nach Chr. (Th. 1)

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Gewitterschauer waren die Freiheitskriege über das Volk gekommen und 
hatten die verborgenen Kräfte des Volksgeistes geweckt. Sie sangen Lieder, 
Barditus nennt sie Tacitus, welche den Muth entflammten und mit Sreges- 
gewißheit erfüllten. Er nennt diese Lieder wahre Ausbrüche unbändiger 
Kampfeslust. Auch größere Heldenlieder gab es zum Preise der Tapferkeit. 
Sie wurden in den Gelagen gesungen, bevor die Krieger zur Schlacht 
zogen. In solchen Liedern ward Arminius gefeiert. Auf die Beschaffenheit 
dieser ältesten Dichtung können wir freilich aus den jetzt vorhandenen, um 
sieben und acht Jahrhunderte jüngeren Bruchstücken altdeutscher Poesie kaum 
zurückschließen. Aber gewiß war die Sprache wo möglich noch tönender, 
urkräftiger, das alliterirende Wiederholen der Laute — die wie Schilde 
und Speere im Tact zusammenschlugen — noch gewaltiger. Durch Mark 
und Bein gingen diese Gesänge dem Hörer; sie erfüllten den Germanen 
mit Siegesmuth, den Römer mit Schrecken. Um den Schall des Schlacht¬ 
gesanges zu verstärken, hielten sie die Schilde an den Mund, so daß es 
den Römern wie übernatürliches Getöse, nicht wie menschlicher Gesang er¬ 
schien. Dieser Musik mochte der Tanz entsprechen, auch bei den Germanen 
die älteste aller Künste. Er war kriegerisch-religiös. Die Jünglinge 
führten nackt zwischen Schwertern und Framen ihre Tänze zu Ehren des 
Kriegsgottes auf.*) 
Die Poesie war übrigens ein Gemeingut des Volkes, wie das Recht 
und der Gottesdienst. Eine besondere Sängerzunft, wie die celtischen 
Barden oder die seandinavischen Sealden, gab es bei den Germanen nicht. 
Kriegsruhm und Gesangesgabe zierten denselben Mann, der zu Hause Priester, 
in der Gemeinde Richter war. Glaube, Poesie und Recht, Priester-, Sänger¬ 
und Richteramt flössen aus einer und derselben Quelle, aus dem freien, 
durch keine Schranke gehemmten Geiste der Nation.**) 
Wetigion der Germanenf). 
Was wir von der Religion unserer Urväter aus den Schriften der 
Alten und einheimischen Denkmälern erfahren, ist sehr wenig, kann aber 
glücklicherweise aus den uns erhaltenen Religions- und mystischen Schriften 
der Skandinavier, aus der Edda (zu Deutsch: Urgroßmutter), der 
„nordischen Bibel" ergänzt werden. Es ist oben erwähnt worden, daß die 
Germanen vor ihrer Einwanderung in Deutschland eine Zeit lang in Skan- 
*) Die Männer schwangen da zuerst nach einem dreimaligen Umtanz die Schwerter 
in den Scheiden in die Luft, zogen dann blank und bewegten sich unter Lufthieben 
nach bestimmter Form durch einander, so daß ihre Klingen eine sechseckige Rose 
bildeten. Plötzlich lösten sie diese wieder auf und über dem Kopfe jedes Einzelnen 
zeichneten sie im Fechten eine viereckige Rose. Dann bewegten sie sich heftiger 
und rascher, schlugen die Schwerter gegeneinander und beendeten mit einem raschen 
Rückwärtssprunge das schöne Kampfspiel, zu dem Gesang und Musik ertönten. 
So war es wenigstens im Norden, freilich in viel späterer Zeit. Weinhold, nor¬ 
disches Leben, 466 ff. 
**) Vergl. die klassische Darstellung G. Freitags: Aus der Römerzeit in „Bilder 
aus dem Mittelalter", I. S. 27 ff. 
f) Sugenheim, Geschichte des deutschen Volkes und seine Cultur I. 58. Die 
Darstellung Sugenheims beruht auf den grundlegenden Arbeiten von I. Grimm, 
deutsche Mythologie; Simrock, Handbuch der deutschen Mythologie und Lüning, 
Einleitung zu seiner Ausgabe der Edda. Sch.
	        
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