Full text: Lebensbilder und Charakterzüge der Hohenzollerschen Fürsten seit dem dreissigjährigen Kriege

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Wilhelm I. 
stimme zu: „Guten Morgen, Euer Majestät!" Verwundert sah 
sich der Kaiser um und gewahrte nun den kleinen Burschen, 
welcher ihn so munter und so frisch begrüßt hatte und rief dem¬ 
selben ebenfalls einen freundlichen „guten Morgen" zu. Am 
andern Tag stand der kleine Karl wieder vor dem Häuschen, er 
hatte die Mütze in der Hand, grüßte den Kaiser aber nicht, weil 
seine Mutter ihm gesagt hatte, das laute Begrüßen des Kaisers 
sei nicht so recht passend. Kaiser Wilhelm blieb stehen und fragte 
die Mutter: „Warum ist der Knabe jetzt stumm? Er soll laut 
und immer mit mir sprechen!" Von diesem Tage an empfing der 
Kaiser täglich einen fröhlichen Morgengruß von dem kleinen Karl. 
Nahe dem Häuschen, welches Karl mit seiner Mutter bewohnte, 
befand sich eine Sattenthür, welche der Kaiser jedesmal öffnen 
mußte, um weiter gehen zn können. Eines Morgens wollte diese 
Thür nicht aufgehen. Schnell sprang Karl herbei und öffnete 
sie. Der Kaiser sah ihn freundlich an und sagte: „Du sollst 
jetzt immer mein kleiner Page sein und mir jeden Morgen öffnen." 
So geschah es denn auch. Jeden Morgen stand der kleine Karl 
an der Sattenthür und öffnete sie dem Monarchen, wobei beide 
freundlich mit einander plauderten. Zu Karls Mutter sagte der 
Kaiser: „Der kleine Portier ist brav auf seinem Posten; er macht 
mir durch seine offenen Antworten viele Freude!" 
Karls Ferien gingen zur Neige und feine Abreise stand bevor. 
Am letzten Morgen sagte der kleine Portier seinem kaiserlichen 
Freunde Sebewohl. Dieser nahm Karl bei der Hand und ging 
mit ihm zu dessen Mutter. Kaiser Wilhelm sprach gar herzliche 
Worte zu beiden und zur Mutter sagte er: „Ich habe Ihren 
Karl recht lieb gewonnen ; sein offenes Wesen hat mir viele Freude 
gemacht. Da ist mein Bild, das ich ihm versprochen habe." 
Damit griff er in die Tasche, zog sein Portrait hervor, schrieb 
mit eigener Hand seinen Namen „Wilhelm" darunter und über¬ 
reichte dasselbe Karls Mutter. Dann reichte er beiden bewegt 
die Hand und schied von ihnen mit dem Wunsche: 
„Übers Jahr wieder gesund in Gastein!"
	        
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