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hören, mochte nicht gern wieder von ihm lassen. So gewann er seine
angelsächsischen Schüler und Freunde, so den heiligen Gregor, der später
Bischos von Utrecht wurde, aus angesehenem, den Merowingern ver¬
wandtem Hause, so Sturm aus vornehmem bayerischen Geschlechte, den
ersten Abt von Fulda. Daher die unendliche Verehrung und Liebe, die
er schon bei Lebzeiten genoß, der trostlose Schmerz und das Zusammen¬
strömen des Volkes, als seine Leiche von Friesland nach Fulda überführt
wurde. Reiche Wundersagen knüpfen sich an die Stätten seiner Wirk¬
samkeit uud die Uebertraguug seiner Gebeine, und doch ist der unglaub¬
liche Ersolg, den er hatte, selbst vielleicht das größte Wunder, welches die
christliche Mission aus ber nachapostolischen Zeit aufzuweisen hat.
39. Das Kaisertum Karls des Großen.
W. v. G iesebrecht, a. a. O.
Als Karl beit Kaiserstuhl Roms bestieg, war ein Ziel erreicht, bem
hochstrebenbe beutsche Fürsten seit Jahrhunderten nachgetrachtet hatten.
Von Rom hatten bie Deutschen bie ersten Eiubrücke eines großen staat¬
lichen Lebens empfangen; unter beut (Einfluß biefer Einbrücke waren alle
germanischen Reiche begrünbet worbeu. Die Größe bes römischen Kaiser-
staates, bie Einheit seiner schlagfertigen Heere, ber Glanz bes kaiserlichen
Hofes, bie Herrschaft bes Gesetzes waren unb blieben bas Jbeal ber ger¬
manischen Könige; selbst als im Abenblanbe bas geschwächte Reich ber
Cäsaren bem Anbrang germanischer Kriegsscharen erlegen war, schien es
bereit ebelsten Häuptern boch nur bie höchste Ausgabe eines mächtigen
Fürsten zu sein, mit eigener Kraft unb eigenen Mitteln ben zerstörten
Bau herzustellen. Wie aber sollte bies gelingen, so lange sich bie bentschen
Stämme selbst, ohne inneren wie äußeren Zusammenhalt, in einer säst
ununterbrochenen Reihe von Kriegen schwächten unb aufrieben, so lange
bie Fürsten über Völker geboten, bie betn Zwang ber Gesetze unb jeber
bnrchgreifenben Herrschergewalt mit trotzigem Freiheitssinn widerstrebten?
So hatte ber Westgote Athanls, so ber Ostgote Theoberich, so enblich
hatten bie ersten Merowinger ihre kühnen Pläne, bas abenblänbische Reich
herzustellen, sogleich beim ersten Angriff ausgeben müssen; genug, baß es
gelang, einzelne Teile bes großen Ganzen ihrem Königsgebot zn unter¬
werfen unb zu befonberen Reichen zu gestalten.
Aber ber erste germanische Fürst, betn es glückte, bie Selbstänbigkeit
ber Gemeinheit für immer zu brechen unb ber Königsherrichaft zum
letzten, entfcheibeuben Siege über bie Vorherrschaft zu verhelfen, ber
zugleich bahin gebieh, alle bentschen Stämme, bie in ihren alten Sitzen
geblieben waren, in seinem Reiche zu vereinen unb sie wieber mit beit
ansgewanberten, bereits rornanisierten Germanen zu verbittben, nahm
auch sofort bas römifche Kaisertum aus unb stellte sich als Nachfolger
ber eilten Imperatoren hin. So erst schien ber lange Kampf zwischen
Rom und ben Germanen friedlich geschlichtet zu werben, bei bettt es sich
ja von Anfang weniger um bie Vernichtung bes alten Weltreiches gehettt-
belt hatte, als um bie Aufnahme ber bentschen Stämme in ben großen