Full text: Deutsche Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der allgemeinen (Kursus 2, H. 2)

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XIX. Die drei ersten Kaiser des neuen Deutschen Reichs. 
(Vergl. Kursus I, Seite 60—68.) 
I. Kais er Wilhelm I. 
1. Was über Alter und Charakter des ersten deutschen Kaisers zu 
sagen ist. Der erste deutsche Kaiser seit Wiederausrichtung des Reichs 
gelangte zur vollen Entfaltung seiner Kraft und Herrlichkeit erst im 
späteren Mannesalter. Andere Menschen kehren sich in dieser Zeit meist 
müde und lebenssatt von den Kämpfen der Welt ab. Aber geregelte 
Tätigkeit und einfache, mäßige Lebensweise bewahrten dem Kaiser 
Wilhelm bis in sein hohes Alter eine seltene körperliche Rüstigkeit und 
geistige Frische. Ihm war es vergönnt, ein Leben zu führen weit über die 
Jahre hinaus, von denen der Psalmist redet. Gerade die letzten zwanzig 
Jahre seines Lebens wurden zu einer Reihe von Erfolgen und Siegen, wie 
sie in der Geschichte der Welt ohnegleichen dastehen. Seine Lebensbahn 
ist dazu angetan, in ferner Nachwelt sein Gedächtnis als Kaiser Weißbart 
neben die hehre Heldengestalt Barbarossas zu stellen. Seinen Zeit¬ 
genossen aber war Kaiser Wilhelm ein Muster der höchsten Bürger¬ 
tugend, ein leuchtendes Beispiel treuester Pflichterfüllung, unermüdlicher 
Ausdauer. Wie er im Unglück unverzagt und mutig geblieben, so war 
er irrt Glück ohne Überhebung und Hochmut. Mit seltener Bescheidenheit 
erkannte er das Verdienst seiner Gehilfen, eines Bismarck, Moltke, 
Roort usw. an; Dankbarkeit und Wahrheitsliebe, Treue und Gottesfurcht 
waren hervorragende Eigenschaften seines Charakters. 
2. Wodurch der von Kaiser Wilhelm angestrebte äntzere Frieden 
gestört zu werden drohte. Kaiser Wilhelm verzichtete darauf, seine 
Kaiserkrone als eine Fortsetzung des Reichs der römischen Kaiser 
deutscher Nation anzusehen. Er wollte nicht als Mehrer des Reichs 
gelten im alten kriegerischen Sinne; er wollte sein ein Mehrer des 
Reichs in den Gütern und Gaben des Friedens und der bürgerlichen 
Wohlfahrt des Landes. Durch Versöhnung der Nachbarstaaten suchte 
er den äußeren Frieden zu sichern; zwischen Deutschland, Rußland und 
1872. Österreich brachte er 1872 den Dreikaiserbund zustande, welcher sich dis 
Aufrechterhaltung des Friedens zur Ausgabe machte. Trotzdem drohte 
ein allgemeiner Krieg durch die sogenannte orientalische Frage, d.h. durch 
die Verhältnisse des türkischen Reichs auf der Balkauhalbinfel. Will¬ 
kürlich verteilte und mit Härte eingetriebene Steuern führten bei den 
christlichen Bewohnern der nördlichen Provinzen allmähliche Verarmung 
herbei. Deshalb hatten die Serben, Vulgaren, Montenegriner wieder¬ 
holt versucht, das türkische Joch abzuschütteln. Unterstützt wurden sie 
dabei heimlich mit Geld, Waffen und freiwilligen Mannschaften durch 
Rußland, welches trotz des Mißerfolges im Krimkriege den Gedanken, 
Konstantinopel zu seiner Hauptstadt zu machen, nicht aufgegeben hatte. Unter 
barbarischen Greueln und entsetzlichem Blutvergießen wurden die Auf¬ 
stände wiederholt von den Türken niedergeworfen, die christlichen Be¬ 
wohner aber dadurch völlig schütz- und rechtlos. 
3. Wie nach dem Russisch-türkischen Kriege der deutsche Reichs¬ 
kanzler eine Einigung der Großmächte erzielte. Vergeblich bemühten 
sich die europäischen Großmächte, auf friedlichem Wege dem Blut-
	        
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