— 132 —
mächtige Feste zu bezwingen. Und darin war Odysseus vor allen
der Meister. Auf seinen Rat bauten die Griechen ein riesengroßes
Pserd aus Fichtenholz, in dessen geräumigem Bauche sich dreißig
auserwählte Helden, unter ihnen Odysseus, Diomedes und Menelaos,
einschlössen. Die übrigen aber steckten des Nachts das Zeltlager in
Brand und segelten dann unter Agamemnons Führung nach einer
benachbarten Insel, wo sie sich in den Hinterhalt legten.
Als die Trojaner am nächsten Morgen den Rauch von dem
Lager aufwirbeln jähen und auch die Schiffe verschwunden waren,
strömten sie voll Freuden aus den Thoren dem Meeresufer zu und
erblickten hier das turmhohe hölzerne Roß. Während die einen
meinten, man sollte das unheimliche Wunderding verbrennen, rieten
andere, es in die Stadt zu ziehen und als Siegesdenkmal aufzu¬
stellen. Da trat Laokoon, ein Priester des Apollon, hervor und
sprach: „Unselige Mitbürger, welcher Wahnsinn bethört euch? Meint
ihr, die Griechen seien wirklich davon gesegelt, oder eine Gabe der¬
selben verberge keinen Betrug? Kennt ihr den Odysseus nicht besser?
Entweder ist irgend eine Gefahr in dem Rosse verborgen, oder es
ist eine Kriegsmaschine, die von dem in der Nähe lauernden Feinde
in unsere Stadt getrieben wird. Irgend ein Trug steckt sicher da¬
hinter, darum trauet dem Ungetüm nicht." Mit diesen Worten stieß
er eine gewaltige Lanze in den Bauch des Pferdes, und aus dem
Innern erscholl ein Rasseln und Dröhnen wie aus einer Höhle, die
mit Waffen gefüllt ist. Aber der Sinn der Trojaner blieb ver¬
blendet.
Da brachten einige Hirten einen gefangenen Griechen daher,
den sie im Schilf des Ufers aufgegriffen hatten. Der Mensch nannte
sich Sinon. Unter lebhaftem Geschrei des neugierigen Haufens ward
er näher geführt, und alle umdrängten ihn voll Eifers zu hören,
was er über die Bedeutung aussagen'würde. Das eben hatte der
Arglistige gewünscht, denn er hatte es früher mit Odysseus verab¬
redet, sich von den Trojanern fangen zu lassen und sie dann zu be¬
wegen, daß sie das Pferd in ihre Stadt führten.
Er fing laut an zu weinen und stellte sich lange, als könnte
und dürste er um alles in der Welt das wichtige Geheimnis nicht
verraten. „Nein," schrie er, „ich bitte euch, tötet mich lieber auf der
Stelle!" Um so neugieriger wurden die Trojaner. Endlich gab er
ihren Bitten und Drohungen nach. „So hört denn," sagte er, „die
Griechen schiffen jetzt nach Hause. Um eine glückliche Heimkehr ist
aus Befehl des Priesters dieses Pferd gezimmert als Sühnegeschenk
für die beleidigte Schutzgöttin eurer Stadt, deren Bildnis Odysseus
euch frevelmütig entwandt hat. Kömmt das Pferd unverletzt in
eure Stadt, so wird sie nach dem Ausspruch des Sehers unüber¬
windlich sein und die Völker rings umher beherrschen. Das eben
wollten eure Feinde verhindern: darum bauten sie das Roß so groß,
daß es nicht durch die Thore geht. Solltet ihr aber wagen, ein
das der Göttin geweihte Geschenk,' weil es von euren Feinden kömmt,
die Hand zu legen, so wäre Trojas Untergang gewiß."