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Zwei Fuhrleute begegneten einander in einem Hohlwege.
„Fahre mir aus dem Wege!" rief der eine. „Ei, so fahre du
mir aus dem Wege!" schrie der andere. „Ich will nicht!" sagte
der eine. „Ich brauche es nicht!" sagte der andere. Weil keiner
nachgab, kam es zu heftigem Zank.
„Höre du," sagte endlich der erste, „jetzt frage ich dich zum
letztenmal: willst du mir aus dem Wege fahren oder nicht? —-
Thust du's nicht, so mache ich es mit dir, wie ich es heute schon
mit einem gemacht habe."
Das schien dem andern doch eine bedenkliche Drohung. „Nun,"
sagte er, „so hilf mir wenigstens deinen Wagen ein wenig bei
Seite schieben; ich habe ja sonst nicht Platz, um mit dem meinigen
auszuweichen." Das ließ sich der erste gefallen. In wenig Mi¬
nuten war die Ursache des Streites beseitigt.
Ehe sie schieden sagte der, welcher aus dem Wege gefahren
war, zu dem andern: „Höre, du drohtest doch, du wolltest es mit
mir machen, wie du es heute schon mit einem gemacht hättest.
Sage mir doch, wie hast du es mit den: gemacht?"
„Ja, denke dir," sagte der andere, „der Grobian wollte
mir nicht aus dem Wege fahren; — da fuhr ich ihm aus dem
Wege."
vor Klügste giebt nach. — Höfliche Worte vermögen viel
und kosten wenig. — Ein gutes Wort findet einen guten Ort.
120. Die Finger.
Die Finger stritten hin und her,
wer doch der wichtigste wohl wär’.
„Still da! Der stärkste, der bin ich;
ihr seid nichts nütze ohne mich.
Mehr als ihr vier schaff ich allein;
drum muss ich euer König sein.“
So schrie der Daumen. Schon geringer
erhob die Stimm’ der Zeigefinger:
„Die gröbsten und die feinsten Sachen
kann ich allein am besten machen;
der fleifsigste und thätigste
bin ich und drum der wichtigste.“
Der Mittelfinger rief: „Lernt Sitte!
Als Herr steh’ ich in eurer Mitte;
ich bin der längste und der grösste
und darum auch der allerbeste.“
Lesebuch A. I.
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