1. Geistesleben der Griechen. 39
fürsten zu fein; wahrscheinlich war er ein Ionier ans Smyrna,
von wo aus sich die länger seiner Schule auf Chios nieder¬
ließen. Seine beiden in epischer, d. i. erzählender, Form ge¬
schriebenen Dichterwerke, die „Ilias" und die „Odyssee", gelten
mit Recht wegen ihrer ruhigen Klarheit und einfachen Rahmtet)-
feit als die vollkommensten Heldengedichte aller Zeiten und haben
als allgemeines Bolksbnch tief aus die Bildung der gefammten
hellenischen Welt eingewirkt. Lange Zeit hindurch wurden sie von
den Sängern, Rbapfoden genannt, in einzelnen Theilen oder
„Rhapsodien" den'bewundernden Zuhörern vorgetragen und ,so
von Mund zu Mund fortgepflanzt. Erst auf Anregung des Pisi-
stratns sammelte ein Kreis gelehrter Männer die getrennten Ge¬
sänge und brachte sie in ihre spätere Gestalt und Ordnung.
Allmählich machte die epische Dichtung mit ihrem beschaulichen
Wesen'und ihrem ruhigen, breiten Fluß der Rede der lyrischen
Platz, in welcher die Dichter die mannichfaltigen Stimmungen
einer lebhaft bewegten Seele zum Ausdruck brachten. In dieser
Gattung von Poesie zeichneten sich besonders aus Archilochus
vou Paros, Arion von Korinth, die Dichterin Sappho von
Lesbos, Simonides von Ceos, Pindar von Theben und der
Fabeldichter Aesop.
Mit der Ausbildung der Dichtkunst ging die Tonkunst
-Hand in Hand. Als Schöpfer derselben gilt Terpander von
Lesbos, der die vorhandenen Sangesweisen zuerst nach Kunst-
regeln ordnete. Vou ihm rührt auch die Festsetzung der ältesten
Tonarten her. ' .
Schon längst war es Sitte geworden, die #cstc der Götter,
vor allen die des Weingottes Dionysius, mit feierlichen Chor¬
gesängen, Tänzen und musikalischen Wettkämpfen zu verherrlichen.
Mit der Zeit begann man die Schicksale des Gottes, feine Ver¬
folgungen und seine Siege, durch Rede und Handlung zu veran¬
schaulichen. Dies geschah zuerst durch Thespis in Attika. Bald
ersetzte man die Schicksale des Dionysius durch Gegenstände aus
der 'Sagenwelt, sowie aus der Geschichte des Volkes. So ent¬
wickelte sich das Drama, in dem Alles, was die Meister an Wohl¬
laut, Glanz und Kraft des poetischen Ausdrucks, iu Gesang und
Tanz erfunden hatten, vereinigt war, belebt durch die Kunst des
Geberdenspiels.
Am frühesten gelangte das ernste Drama, die Tragödie,
zur Ausbildung, und zwar zuerst durch Aeschhlus. Durch die
Erzeugnisse seiner schöpferischen Phantasie trug er wesentlich zu
jener Kunstblüte bei, durch welche Athen die Lehrmeisterin der
Schönheit und des Geschmacks bei der Mit- und Nachwelt ge¬
worden ist. In seinen Dramen behandelt er unter Anderem die
Sagen vom Danaus, Agamemnon, den Sieben gegen Theben und
die Geschickte der Perserkriege. Durch Sophokles gelangte die dra-