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sichtig ausgearbeitete Einleitung vorzubereiten, kann auch einer größeren
Dichtung nicht erspart bleiben. Wie bei einer prosaischen Erörterung sorg¬
sam die Grundlagen zu legen sind, aus denen sich die Beweispunkte ent-
-wickeln, so müssen bei einem Drama oder Epos zu Anfang des Gedichtes
Personen, örtliche und zeitliche Verhältnisse, kurz alles, was für den Ver¬
lauf der Handlung von Wichtigkeit ist, dem Zuschauer und Leser vorgeführt
10 werden, freilich nicht in einer reizlosen, nur auf den Verstand berechneten
Weise; es ist vielmehr nicht die geringste Kunst des Dichters, in den ersten
Stadien der Handlung ganz zwanglos und gleichsam uuvermerkt die für das
Verständnis des Folgenden geeigneten Fingerzeige zu geben.
Fragen wir nun, ob Homer der Forderung den Zuhörer oder Leser
in das Verständnis seiner Odyssee einzuführen vollständig genügt hat, so
wird diese Frage nur bejaht werden können. Der erste Gesang ist eine
lebendige, dramatische Erzählung und macht uns zugleich mit allen Personen,
den Örtlichkeiten und der augenblicklichen Lage des Helden und seiner Familie
aufs genaueste vertraut.
20 B. Während Odysseus auf der Insel der Kalypso weilt, beschließen
die Götter in Abwesenheit des auf den Laertiaden ergrimmten Poseidon seine
Heimkehr zu bewerkstelligen. Dann eilt die treue Schützerin des Helden,
Athene, nach Jthaka und tröstet den Telemach, der nun auf ihren Rat be¬
schließt auf Kundschaft nach dem Vater auszuziehen.
Dies der kurze Inhalt des Gesanges, in dem wir als Hauptgruppen
der Handelnden Götter und Menschen unterscheiden. Odysseus selbst freilich
bleibt im Hintergründe, aber indem der Dichter die Hauptperson, auf welche
der Gedanke des Lesers vor allem gerichtet ist, dessen geistigem Blick noch
entzieht, macht er ihn gleichwohl zum Mittelpunkt der Erzählung.
30 Die Erwähnung des berüchtigten Agisthus gibt der Athene Veran¬
lassung sich ihres Schützlings anzunehmen und gerne willfahrt Zeus ihrem
Verlangen den edlen Dulder heimkehren zu lassen, solange Poseidon, den
er durch die Blendung seines Sohnes erbittert, abwesend ist. Aber während
die Göttin freudig zur Familie des Begnadigten eilt, kann sich der Leser
des beunruhigenden Gedankens nicht erwehren, ob denn auch das Rettungs¬
werk gelingen werde.
Indem nun so der Dichter den Blick auf die Zukunft lenkt, macht er
uns, allerdings in wohlberechneter Art auch nur wieder andeutungsweise,
mit einer Fülle von Ereignissen bekannt, die, lange schon geschehen, die Vor-
40aussetzung der sich entwickelnden Handlung bilden. Alle Helden, welche die
Einnahme von Troja überlebt, sind in ihre Heimat zurückgekehrt; nur er,
durch dessen List die hohe Feste gefallen, wird wiederholt bald hierhin bald