Full text: Deutsches Lesebuch für Gymnasien und andere höhere Bildungsanstalten

260 
sichtig ausgearbeitete Einleitung vorzubereiten, kann auch einer größeren 
Dichtung nicht erspart bleiben. Wie bei einer prosaischen Erörterung sorg¬ 
sam die Grundlagen zu legen sind, aus denen sich die Beweispunkte ent- 
-wickeln, so müssen bei einem Drama oder Epos zu Anfang des Gedichtes 
Personen, örtliche und zeitliche Verhältnisse, kurz alles, was für den Ver¬ 
lauf der Handlung von Wichtigkeit ist, dem Zuschauer und Leser vorgeführt 
10 werden, freilich nicht in einer reizlosen, nur auf den Verstand berechneten 
Weise; es ist vielmehr nicht die geringste Kunst des Dichters, in den ersten 
Stadien der Handlung ganz zwanglos und gleichsam uuvermerkt die für das 
Verständnis des Folgenden geeigneten Fingerzeige zu geben. 
Fragen wir nun, ob Homer der Forderung den Zuhörer oder Leser 
in das Verständnis seiner Odyssee einzuführen vollständig genügt hat, so 
wird diese Frage nur bejaht werden können. Der erste Gesang ist eine 
lebendige, dramatische Erzählung und macht uns zugleich mit allen Personen, 
den Örtlichkeiten und der augenblicklichen Lage des Helden und seiner Familie 
aufs genaueste vertraut. 
20 B. Während Odysseus auf der Insel der Kalypso weilt, beschließen 
die Götter in Abwesenheit des auf den Laertiaden ergrimmten Poseidon seine 
Heimkehr zu bewerkstelligen. Dann eilt die treue Schützerin des Helden, 
Athene, nach Jthaka und tröstet den Telemach, der nun auf ihren Rat be¬ 
schließt auf Kundschaft nach dem Vater auszuziehen. 
Dies der kurze Inhalt des Gesanges, in dem wir als Hauptgruppen 
der Handelnden Götter und Menschen unterscheiden. Odysseus selbst freilich 
bleibt im Hintergründe, aber indem der Dichter die Hauptperson, auf welche 
der Gedanke des Lesers vor allem gerichtet ist, dessen geistigem Blick noch 
entzieht, macht er ihn gleichwohl zum Mittelpunkt der Erzählung. 
30 Die Erwähnung des berüchtigten Agisthus gibt der Athene Veran¬ 
lassung sich ihres Schützlings anzunehmen und gerne willfahrt Zeus ihrem 
Verlangen den edlen Dulder heimkehren zu lassen, solange Poseidon, den 
er durch die Blendung seines Sohnes erbittert, abwesend ist. Aber während 
die Göttin freudig zur Familie des Begnadigten eilt, kann sich der Leser 
des beunruhigenden Gedankens nicht erwehren, ob denn auch das Rettungs¬ 
werk gelingen werde. 
Indem nun so der Dichter den Blick auf die Zukunft lenkt, macht er 
uns, allerdings in wohlberechneter Art auch nur wieder andeutungsweise, 
mit einer Fülle von Ereignissen bekannt, die, lange schon geschehen, die Vor- 
40aussetzung der sich entwickelnden Handlung bilden. Alle Helden, welche die 
Einnahme von Troja überlebt, sind in ihre Heimat zurückgekehrt; nur er, 
durch dessen List die hohe Feste gefallen, wird wiederholt bald hierhin bald
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.