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2.
Endlich brach der Tag (6. Juni) an und schnell wurden die Höhen
erstiegen; da lag ste vor ihnen, die heilige Stadt mit ihren Mauern und Thür¬
men und wie mit himmlischem Glanze strahlte ste ihnen entgegen. Namen¬
lose Wonne und innige Rührung durchdrang Aller Herzen; vergessen waren
alle Gefahren und Mühseligkeiten, nahe der Lohn für alle Verluste. Sie
jauchzten und weinten vor Freuden, beteten und sangen, warfen sich nieder
und küßten den Boden, wo sie die Fußtritte des Heilandes und seiner Jünger
zu sehen glaubten. Nichts glich ihrer Freude, diese Städte zu schauen, als
die Begierde sie zu besitzen, und wohl nie ist ein Heer begeisterter als dieses
zur Eroberung einer Stadt herangerückt.
Aber den Herzog Gottfried drückte nun die schwere Sorge, wie die große
von 60,000 Mann vertheidigte feste Stadt mit der geringen Zahl von vielleicht
nur 20,000 wirklichen Kriegern einzuschließen und zu belagern sei. Man
begann die Arbeit von der nördlichen Seite her. Zunächst der Burg Davids
nahm Gottfried mit den Deutschen und Lothringern seinen Platz. Schon am
fünften Tage wagte das Heer einen allgemeinen Sturm. Vergebens! Zwar
warfen sie die Vordermauer nieder und drangen bis zur Hauptmauer, aber
aus Mangel an Strickleitern konnten sie weiter nichts ausrichten. Viele von
ihnen wurden getobte!, noch mehrere verwundet und mit Einbruch der Nacht
mußten sich alle wieder zurückziehen.
Das Mislingen dieses ersten Anlaufs führte zur Besonnenheit. Man
dachte nun ernstlicher an einen geordneten Angriff und an Verfertigung des
nöthigen Belagerungszeuges. Aber nun war Mangel an Holz und bald ent¬
stand auch Mangel an Nahrungsmitteln, besonders an Wasser; fast wäre in
der unerträglichen Hitze das Heer vor Durst verschmachtet. Endlich entdeckte
man in einer entfernteren Gegend einen Wald, aus welchem große Stämme
und Balken in's Lager geschafft wurden. Noch ein sehr glücklicher Umstand
war es, daß Schiffe von Genua in den Hafen von Joppe einliefen, wodurch
den Kreuzfahrern Nahrungsmittel, Mannschaft und geschickte Baumeister zu¬
geführt wurden. Nun ging es rasch an die Arbeit. Alle ohne Ausnahme,
Vornehme und Niedrige, Arme und Reiche, unterzogen sich derselben, und in
kurzer Zeit wurden Sturmleitern und Wurfmaschinen in Menge gefertigt.
Herzog Gottfried aber und Graf Raimund ließen aus eigene Kosten zwei
große Belagerungsthürme bauen und unter unsäglichen Mühen zu denjenigen
Stellen der Mauer schaffen, wo ihre Wirkung am erfolgreichsten schien.
3.
Es waren vier Wochen unter mancherlei Arbeit und Beschwerde vergan¬
gen; fast alle Vorkehrungen waren vollendet und der Tag zum abermaligen
Sturme festgesetzt, als man auf Rath der Geistlichkeit einen feierlichen Umzug
veranstaltete, zuerst um die obwaltenden Zwistigkeiten auszutilgen, dann um
die Begeisterung und den Glauben des Volkes zu stärken, endlich auch um zu
versuchen, ob sich das Wunder nicht erneuerte, durch welches Jericho in die Hänve
derJsraeliten gefallen war. Freitags den8.Juli wurde diese Prozession gehalten.
Die Bischöfe und übrigen Geistlichen führten sie an, festlich geschmückt, aber
barfuß, mit Kreuzen und Reliquien in den Händen. Ihnen folgten gleich¬
falls barfuß, aber völlig bewaffnet, mit Fahnen und Trompeten die Ritter
und alles Volk; Gebete und Gesänge ertönten. So ging der Zug um die