Gottfried Keller—
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Gottfried Keller,
geboren 1819 zu Glattfelden bei Zürich, lebte längere Zeit in München und Wien,
1861-1876 1. Staatsschreiber des Kantons Zürich. Starb 1890 zu Hottingen bei
Zürich. (Vgl. Neuland, Teil IV, S. 5: Sommernacht.)
270. Abendlied an die Natur.
.Hüll' ein mich in die grünen Deden, 3. Geliebte, die mit ew'ger Treue
Mit deinem Säuseln sing' mich ein, Und ew'ger Jugend mich erquickt,
Bei guter Zeit magst du mich wecken Du einz'ge Lust, die ohne Reue
Mit deines Tages jungem Schein! Und ohne Nachweh mich entzüct —
Ich hab' mich müd' in dir ergangen, Sollt' ich dir jemals untreu werden,
Mein Aug' ist matt von deiner Dich kalt vergessen, ohne Dank,
Pracht, Dann ist mein Fall genaht auf
Nun ist mein einziges Verlangen, Erden,
Im Traum zu ruh'n in deiner Nacht. Mein Herz verdorben oder krank!
2. Des Kinderauges freudig Leuchten 4.O steh' mir immerdar im Rücken,
Schon fingest du mit Blumen ein, Lieg' ich im Feld mit meiner Zeit!
Und wollte junger Gram es Milt deinen warmen Mutterblicken
feuchten, Ruh' auf mir auch im schärfsten
Du scheuchtest ihn mit buntem Schein. Streit!
Ob wildes Hassen, maßlos Lieben Und sollte mich das Ende finden,
Mich weiter auch gefangen nahm: Schnell dede mich mit Rasen zu;
Doch immer bin ich Kind geblieben, O selig Sterben und Verschwinden
Wenn ich zu dir ins Freie kam! In deiner stillen Herbergsruh'!
E
271. An das Vaterland.
1.O mein Heimatland! O mein Vaterland!
Wie so innig, feurig lieb' ich dich!
Schönste Ros', ob jede mir verblich,
Duftest noch an meinem öden Strand!
Als ich arm, doch froh fremdes Land durchstrich,
Königsglanz mit deinen Bergen maß,
Thronenflitter bald ob dir vergaß,
Wie war da der Bettler stolz auf dich!
Als ich fern dir war, o Helvetia!
Faßte manchmal mich ein tiefes Leid;
Doch wie kehrte schnell es sich in Freud',
Wenn ich einen deiner Söhne sah!
O mein Schweizerland, all mein Gut und Hab!
Wann dereinst die letzte Stunde kommt,
Ob ich Schwacher dir auch nichts gefrommt,
Nicht versage mir ein stilles Grab!
Neuland. X.
3. Aufl.*
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