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Der kriegerische Genius. 
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Aber auch unter den gebildeten Völkern und in den gebildetsten Ständen der¬ 
selben ist ja das Leben voll solcher Erscheinungen, wo Menschen durch ge¬ 
waltsame Leidenschaften fortgerissen werden, wie im Mittelalter die auf Hir¬ 
schen angeschmiedeten Wilddiebe durch's Gehölz. 
Wir sagen es also noch einmal: ein starkes Gemüt ist nicht ein solches, 42 
welches bloß starker Regungen fähig ist, sondern dasjenige, welches bei den 
stärksten Regungen im Gleichgewicht bleibt, so daß trotz den Stürmen in der 
Brust der Einsicht und Überzeugung wie der Nadel des Kompasses auf dem 
sturmbewegten Schiff das feinste Spiel gestattet ist. 
Mit dem Namen der Charakter stärke oder überhaupt des Char ak- 43 
1er s bezeichnet man das feste Halten an seiner Überzeugung, sie mag nun 
das Resultat fremder oder eigener Einsicht sein, und mag sie Grundsätzen, 
Ansichten, augenblicklichen Eingebungen, oder was immer für Ergebnissen des 
Verstandes angehören. Aber diese Festigkeit kann sich freilich nicht kundthun, 
wenn die Einsichten selbst häufigem Wechsel unterliegen. Dieser häufige Wech¬ 
sel braucht nicht die Folge fremden Einflusses zu sein, sondern er kann aus 
der eigenen fortwirkenden Thätigkeit des Verstandes hervorgehen, deutet dann 
aber freilich auf eine eigentümliche Unsicherheit desselben. Offenbar wird 
man von einem Menschen, der seine Ansicht alle Augenblicke ändert, wie sehr 
dies auch aus ihm selbst hervorgehen mag, nicht sagen:, er hat Charakter. 
Man bezeichnet also nur solche Menschen mit dieser Eigenschaft, deren Über¬ 
zeugung sehr konstant ist, entweder weil sie tief begründet und klar, an sich 
zu einer Veränderung wenig geeignet ist, oder weil es, wie bei indolenten 
Menschen, an Verstandesthätigkeit und damit an dem Grunde zur Veränderung 
fehlt, oder endlich, weil ein ausdrücklicher Akt des Willens, aus einem ge¬ 
setzgebenden Grundsatz des Verstandes entsprungen, den Wechsel der Meinungen 
bis auf einen gewissen Grad zurückweist. 
Nun liegen im Kriege, in den zahlreichen und starken Eindrücken, welche 44 
das Gemüt erhält, und in der Unsicherheit alles Wissens und aller Einsicht 
mehr Veranlassungen, den Menschen von seiner angefangenen Bahn ab¬ 
zudrängen, ihn an sich und andern irre zu machen, als dies in irgend einer 
andern menschlichen Thätigkeit vorkommt. 
Der herzzerreißende Anblick von Gefahren und Leiden läßt das Gefühl 45 
leicht ein Übergewicht über die Verstandesüberzeugung gewinnen, und in dem 
Dämmerlicht aller Erscheinungen ist eine tiefe, klare Einsicht so schwer, daß 
der Wechsel derselben begreiflicher nnd verzeihlicher wird. Es ist immer nur 
ein Ahnen und Herausfühlen der Wahrheit, nach welchem gehandelt werden 
muß. Darum ist nirgends die Meinungsverschiedenheit so groß als im Kriege, 
und der Strom der Eindrücke gegen die eigene Überzeugung hört nie auf.
	        
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