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DaS niedere Erkenntnißvermögen begreift zu¬
erst in sich die Anschauung. Von allen Dingen, welche
ich mit den fünf Sinnen wahrnehme, wie von allen Zu¬
ständen meiner Seele macht sich mein Geist ein inneres
Bild, welches ich anschaue und mir vorstelle wie das Ding
selbst, und in eben dem Maaße, als dies Bild dem Dinge
entspricht, ist meine Anschauung und Vorstellung richtig.
Ich brauche das einmal angeschaute Ding aber nicht immer
auf's Neue anzuschauen, um eine Vorstellung von ihm zu
haben; das Vermögen, welches die früheren Anschauungen
aufbewahrt, nennt man das Gedächtniß; und die Er¬
innerungskraft ruft sie aus dem Gedächtniß hervor, so
oft ich ihrer bedarf. Der hat ein gutes Gedächtniß, dem
die früheren Vorstellungen immer gleich zur Hand sind; und
es wäre sehr zu wünschen, daß die frommen und guten Vor¬
stellungen, die wir gehabt haben, sich uns immer leichter
vergegenwärtigen, als die bösen. Ich kann aber meine frü¬
heren Anschauungen mir auch ausmalen; ich kann ihre
Bestandtheile sondern, und wieder zusammensetzen, ja aus
ihnen mir neue, in der Wirklichkeit gar nicht vorhandene
Bilder schaffen; dies thue ich vermöge meiner Einbil¬
dungskraft und Phantasie. Die muß ich aber sehr
im Zaume halten, denn meine sündlichen Neigungen bedie¬
nen sich dieser Kraft gewöhnlich, um mir die Sünde recht
reizend vorzustellen, und da thut man solche desto eher.
Von diesem niedern Erkenntnißvermögen haben die Thiere
auch Etwas, aber nicht von dem höhern. Dem gehört
der Verstand und die Vernunft an. Der Verstand ver¬
bindet die gemeinsamen Merkmale verschiedener Dinge zu
Einer Vorstellung, die man Begriff nennt, z. B. Baum,
Pflanze, Ding. Er verbindet verschiedene Begriffe zu einer
Einheit des Bewußtseins, indem er den einen hem andern
als zugehörig zuspricht, oder als nicht zugehörig abspricht —
er urtheilt, z. B. der Baum blühet, das Kind schläft
nicht. Er leitet aus gewissen gegebenen Urtheilen, deren
Wahrheit anerkannt wird, die Wahrheit anderer Urtheile ab
— er schließt, z. B. der Mensch ist sterblich; ich bin ein
Mensch, also bin ich sterblich. In diesen drei Thätigkeiten
besteht das Denken, der eigenthümliche Vorzug des Men¬
schen vor den Thieren. Durch dieses vermag der Verstand
manche Wahrheit zu erkennen; aber er findet zuletzt Gren¬
zen, die er nicht überschreiten kann. Wenn er von Wir¬
kung auf Ursache, und von einer Ursach auf die andere
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