Metadata: Lesebuch für die Mittel- und Oberstufe (Teil 2, [Schülerband])

7. Lieoe deinen Nächsten! 
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kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm, der neben ihr auf 
den Zehen stand und auch hineinschaute, rief sogleich: „Mutter, einen 
Groschen! Ich hole das Brot." Dann sagte er zum Vater: „Heute 
aber laufe ich nicht lange herum; wenn es beim Thorbäcker kein Brot 
giebt, gehe ich wieder einmal zu dem Herrn Paten hinüber." Der Gerber 
sagte nicht ja und nicht nein darauf und ließ den Knaben ziehen. Im 
ersten Brotladen hatten aber die Wecken schon alle ihre Käufer gefunden, 
und Helm kam wieder zum Thore herein, laut singend, daß es die ganze 
Gasse hören konnte: „Heut geh' ich zum Herrn Paten! Heut geh' ich 
zum Herrn Paten!" Ungehalten über den argen Schreihals, wollte sein 
Vater ihm wehren. Aber ehe er noch das verquollene Fenster aufbringen 
konnte, war der kleine Sänger schon zum Tempel hinein und — kehrte 
nach einigen Augenblicken als Friedensbote wieder zurück. Statt des 
Ölzweiges hatte er einen geschenkten Eierring in der Hand und rief, über 
die Schwelle in die Stube hereinstolpernd: „Der Herr Pate läßt Vater 
und Mutter recht schön grüßen, und ich soll bald wieder kommen." 
Noch an dem nämlichen Abende wechselten die Nachbarsleute einige 
freundliche Worte über die Gasse; am folgenden saßen die weiße und die 
gelbe Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen; am dritten zeigten 
die Frauen einander die Leinwand, zu der sie in den bösen drei Jahren 
oft mit ihren Thränen über den unseligen Zwist den Faden genetzt hatten. 
Und es war hohe Zeit, daß der Herr den Friedensboten erweckt 
hatte; denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet schnell 
in ein Nervenfieber und aus diesem, nach wenigen lichten Augenblicken, 
m den Todesschlnmmer. G«ri L-Mer. 
81. Der Dater und die drei Söhne. 
Von Jahren alt, an Gütern reich, teilt' einst ein Vater sein ver¬ 
mögen und den mit Müh' erworbnen Segen selbst unter seine Söhne 
gleich. „Cin Diamant ist's," sprach der Alte, „den ich für den von 
euch behalte, der mittelst einer edlen That dazu den größten An¬ 
spruch hat." 
Um diesen Anspruch zu erlangen, sieht man die Söhne sich zer¬ 
streun. Drei Monde waren schon vergangen, da stellten sie sich 
wieder ein. 
Drauf sprach der älteste der Brüder: „ß>ört! es vertraut' ein 
fremder Mann sein Gut ohn' einen Schein mir an; dem gab ich 
es getreulich wieder. Sagt, war die That nicht lobenswert?" — „Du 
thatest, Sohn, wie sich's gehört," ließ sich der Vater hier vernehmen;
	        
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