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rasenden Orkanen, welche die ganze Natur in Aufruhr versetzen, Bäume
in die Tiefe schleudern, Felsstücke losreißen und Gebäude abdecken.
Unruhig ziehen sich die Gemsen auf die Nordseite des Berges oder in
tiefe Felsenkessel zurück. Kühe, Pferde und Ziegen suchen mit Miß-
behagen nach frischer Luft, während der Föhn ihnen Rachen und
Lungen austrocknet. Trotzdem wird der Föhn im Frühlinge mit Freuden
begrüßt. Er bewirkt ungeheuere Eis- und Schneeschmelzungen. Er ist
der rechte Frühlingsbote und richtet in 24 Stunden so viel aus wie
die Sonne in 14 Tagen. Würde er nicht von Zeit zu Zeit wohltätige
Wärme bringen und die neuen Schneeansätze wegfegen, so gäbe es in
manchem Hochtale keinen Sommer und kein Leben, sondern wahrschein-
lich nur stets wachsende Eisfelder. Der Föhn ist auch ein vorsichtiger
Schneeschmelzer und schützt dadurch, daß er vermöge seiner Wärme
eine lebhafte Verdunstung herbeiführt, die Niederung vor gefährlichen
Überflutungen der Bergwasser.
Wenn sich der Föhn erhebt aus seinen Schlünden,
Löscht man die Feuer aus, die Schiffe suchen
Eilends den Hasen, und der mächt'ge Geist
Geht ohne Schaden spurlos vorüber. (Schiller.)
g) Die Bewässerung. Die Alpen sind ein wichtiges Quell-
gebiet. Am wasserreichsten sind die aus den Gletschern abfließenden
Bäche. Durch neue Zuflüsse fortwährend verstärkt und mit einem
lebensfrohen Jünglinge vergleichbar, tost und schäumt der Fluß zwischen
hohen Felsen oder steilen, bewaldeten Abhängen in vielen Krümmungen
zur Tiefe hinab. Dann gewinnt er mehr Raum. Wiesen legen sich
an den Bergwald, und fruchtbare Felder begleiten den Fluß. Die
Alpenflüsse sind dann besonders wasserreich, wenn Eis und Schnee in
ihren Quellgebieten schmelzen. Im Frühling richten sie oft schreckliche
Verheerungen an. Es ist unglaublich, wie viel Wasser dann zusammen-
rauscht und wie hoch es steigt. Die breite Talfläche bildet einen
gewaltigen Strom, der alles mit fortreißt und gewaltige Steine, Fels-
stücke und Gerölle auf Wiefen und Felder treibt. Strahlenförmig
senden die Alpen Flüsse nach den verschiedensten Gegenden und Strom-
systemen. Die wichtigsten sind der Rhein, die Rhone und die Etsch,
sowie zahlreiche Nebenflüsse dieser Gewässer und der Donau. Eine
Hauptzierde der Alpen sind die vielen Seen, welche sowohl an dem
Nord-, als auch an dem Südabhang derselben liegen. Sie sind die
Sammelbehälter und Läuterungsbecken der Alpengewässer und gleichsam
die Kehrmagazine der Alpen. Wild tobend stürzen sich die Alpenflüsse
mit ihrem unklaren Wasser in die Seen, und in voller Jugendfrische,
aber geläutert und in ihrem Laufe gemäßigt, fetzen sie nach dem Aus-
tritt daraus ihren Weg fort. Allen Unrat von Schutt und Steinen,
den sie aus den Schluchten der Berge mit fortgerissen, haben sie in
die Tiefen der Seen versenkt. Durch hohe Berge sind sie gegen die
rauhen Winde geschützt; darum haben sie schon in den ältesten Zeiten
die Bewohner zu Niederlassungen angelockt. Die Seeufer sind häufig
von Weinbergen, Obstgärten und Getreidefeldern umgeben. Die wich-
tigsten dieser Seen auf schweizerischem Boden sind der Gensersee, der