Full text: Reallexikon des classischen Alterthums für Gymnasien

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Mythologie. 
sten Aberglaubens die s. g. orphischen Myste¬ 
rien, die in Athen schon zur Zeit des Peisistratos 
Eingang fanden. Sie scheinen mit den Eleusinien 
Manches gemein gehabt zu haben. Die Einge¬ 
weihten, denen das Studium der orphischeu Schrif¬ 
ten und eine strenge Askese und Beobachtung my¬ 
stischer Ordensregeln nach Art der ägyptischen 
Priesterschast und des pythagoreischen Bundes 
vorgeschrieben war, bildeten eine enggeschlossene 
Corporation und bewahrheiten dadurch ihren weit¬ 
verbreiteten Einfluß bis in späte Zeiten. Diese 
ausländischen M. haben sich meist in verworrenen 
Zeiten des öffentlichen Lebens, zu Athen beson¬ 
ders während des peloponnesischen Krieges, zu 
Rom in der mittleren Kaiserzeit eingeschlichen, 
und zwar zuerst nur von separatistischen Vereinen 
geübt; allmählich aber verschafften sie sich, ohne 
vom Staate förmlich anerkannt zn werden, ja 
oft von demfelben verfolgt, eine solche Verkei¬ 
lung, daß sie die einheimischen Culte verdunkelten 
und zu verdrängen drohten. 
Mythologie, (iv&oloyi'a, ist die Lehre von den 
Mythen der alten heidnischen Völker, namentlich 
der Griechen, bei denen sich der Mythos am 
freiesten und reichsten ausgebildet hat; oft jedoch 
versteht man auch objectiv darunter die gestimmte 
Masse der Mythen selbst. Mv&og bedeutete ur¬ 
sprünglich bei den Griechen Rede, Erzählung 
(Homer); später jedoch gebrauchte man das Wort 
für Erzählungen, deren Inhalt in den Bereich 
der vorgeschichtlichen Zeit fällt. „Was die grie¬ 
chischen Gelehrten fiv&ovg nannten und in Samm¬ 
lungen wie Apollodors Bibliothek, als einen gleich¬ 
artigen Stoff behandelten, besteht in einer Masse 
Erzählungen von Handlungen und Schicksalen per¬ 
sönlicher Einzelwesen, welche nach ihrem Zusam¬ 
menhange und ihrer Verflechtung insgesammt eine 
frühere, von der eigentlichen Gefchichte Griechen¬ 
lands ziemlich genau getrennte Zeit betreffen." 
(K. O. Müller.) Der Inhalt dieser Mythen ist 
sehr verschieden; man kann sagen, jene früheren 
Menschen haben ihre ganze Weltanschauung, all 
ihr Wissen und Denken in ihnen niedergelegt; 
doch kann man leicht zwei Hauptarteu derselben 
unterscheiden, nämlich solche, die sich wesentlich 
um eine Gottheit drehen, und solche, deren Mittet- 
Punct die ältesten Menschen, die Heroen des Lan¬ 
des sind; und darnach theilen wir in neuerer 
Zeit den Mythos so, daß wir die erste Art 
Mythos, die zweite Sage nennen. Beide haben 
das gemein, daß in ihnen Geschehenes und Ge¬ 
dachtes , Reales und Ideales eng verbunden und 
verschmolzen sind. In dem Mythos im engeren 
Sinn, namentlich in dem kosmogonischen und 
iheogouischen, weiltet das Ideelle vor, er enthält 
meist in der Form von etwas Factischem, Ge¬ 
schehenem Ideen aus dem Bereiche der physischen 
und moralischen Welt, Gedanken über das Wesen 
und die Macht der Götter, über das Verhältniß 
der-Götter zu einander und der Menschen zu den 
Göttern u. s. w. (z. B. Ge gebar den Uranos, 
Zeus erzeugte mit Themis die Horen, Zeus ver¬ 
schlang die Metis, daß sie ihm in seinem Inneren 
Gutes und Böses anzeige u. dgl.). Deu Sagen 
dagegen liegt meist etwas wirklich Historisches zu 
Grunde, aber dieses ist vielfach umgebildet und 
mit Gedachtem vermischt. Sie sprechen von der Ab¬ 
stammung und den Thaten der Landesheroen, von 
Wanderungen, Gründungen von Städten u. f. w.; 
das Gedachte aber, das hineingewebt ward, ist 
besonders das beständige Einwirken der Götter, 
Ideen des Rechts und der Sitte u. s. w. So 
tritt denn vorzüglich die Religion in der Mytho¬ 
logie als ein Hauptelement hervor, so daß man 
auch oft unter Mythologie den Inbegriff der Re¬ 
ligion überhaupt versteht; allein Religion und 
Mythologie sind keine sich vollständig deckenden 
Begriffe. — Die erste Entstehung der Mythen ist 
in der Urzeit des Volkes zn suchen; doch muß 
man bei dem Entstehen derselben Religion und 
Sprache schon als in gewissem Grade vorhanden 
annehmen. Die Mythologie beruht wesentlich auf 
dem besonderen Charakter der Religion als Na¬ 
turreligion, welche die in der Natur als göttlich 
erkannten Mächte personifieirt und in menschlicher 
Weise auftreten und handeln läßt. Die hierbei 
thätige Geisteskraft ist die Phantasie, welche aus 
jedem Wesen eine Person und aus jedem Ver¬ 
hältniß eine Haudluug macht. Diese schöpferische 
Thätigkeit kam nicht blos einzelnen geistig her¬ 
vorragenden Personen zu, sondern das ganze Volk 
betheiligte sich daran, und zwar auf unmittelbare 
Weise, ohne sich selbst dessen bewußt zu sein und 
sich davon Rechenschaft zu geben. Es erkannte 
seine eigenen Schöpfungen als etwas wirkliches 
an und glaubte an sie und pflanzte sie in münd¬ 
licher Ueberlieferung von Geschlecht zu Geschlecht 
erweiternd, verbindend und umbildend Jahrhun¬ 
derte lang fort. Diese Mythenbildung kann man 
eine unbewußte, natürliche Poesie nennen, welche 
in einem gewissen Zeitalter in dem Volke beson¬ 
ders rege und thätig gewesen sein muß. Und 
gerade das griech. Volk ist vermöge seiner glück¬ 
lichen Naturanlage, durch die günstigen Verhält¬ 
nisse seines Landes und die freie volksthümliche 
Entwickelung hierin vor allen andern ausgezeich¬ 
net gewesen und hat eine durch poetische Schön¬ 
heit und tiefe Bedeutsamkeit wahrhaft vollendete 
Mythologie geschaffen; wahrend bei den Orien¬ 
talen herrschende Priesterkasten wol eine Art von 
mythologischem System couftruirt haben, das be¬ 
vormundete Volk aber in seinem dumpfen Ge¬ 
fühlsleben und bei seiner ausschweifenden Phantasie 
in seine» Religionen es zu keiner klaren Gestal¬ 
tung zu bringen vermochte. Die italischen Völker 
dagegen wendeten ihren Sinn mehr nach der 
praktischen Seite, auf das Eeremouielle des Cul¬ 
tus, und haben darum ihre Mythologie wenig 
ausgebildet, zumal da ihre nationale Entwicke¬ 
lung durch gegenseitige Unterdrückung und durch 
Einwirkung ausländischer gebildeterer Volker ge¬ 
hemmt und unterbrochen wurde. Der Grieche 
aber vermochte durch die ihm inwohuende Kraft 
in jener alten Zeit auch das ihm von außen Zu¬ 
kommende umzubilden und zu nationaleren. — 
Der in der alten mythenbildenden Zeit in dem 
Volke entstandene große Mythencyklus war nichts 
abgeschlossenes uud für alle Zeiten fertiges. Der 
Mythos hat von Natur eine große Bildsamkeit 
und vermag die verschiedensten Anschauungen und 
Stimmungen in sich aufzunehmen. Namentlich 
hat die Dichtkunst sich des Mythos bemächtigt 
und ihn je nach den Anschauungen der Zeit in¬ 
nerlich umgebildet. — So hat Homer den über¬ 
kommenen Mythenborrath nach der Anschauungs¬ 
weise seiner Zeit behandelt und manchen Mythen
	        
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