I. Die Völkerwanderung. 95
vom Lehensherrn zur Heerfolge verpflichtet, hießen Va¬
sallen. Als Herzoge, Grafen, Markgrafen, Pfalzgrafen,
Burggrafen, Edelleute hatten sie größere oder kleinere
Besitzungen, die sie wieder Verleiher: konnten. Die letzten
Untergebenen waren leibeigene, und der Mittelstand,
bestehend aus gemeinen Freien, verschwand allmählich.
Die Rechtspflege stand noch auf niederer Stufe. Das
selbsträchende Faustrecht war überall gestattet; und das
Geschwornengericht, aus 12 Beisitzern oder Schöffen be¬
stehend lind von den Grafen geleitet, nahm oft seine Zu¬
flucht zu den Gottesurtheilen oder Ordalien, indem
der Angeklagte einen Zweikampf, oder die Feuer- oder
Wasserprobe und Anderes bestehen mußte, wobei man
voraussetzte, Gott werde die Unschuldigen weder durch
Schwert, noch durch Feuer oder Wasser umkommen lassen.
Indessen kamen bald geschriebene Gesetzbücher auf, und
Sitten und Berfassungen veredelten sich, vornehmlich durch
das Christenthum.
Die meisten wandernden Völker waren schon Christen,
besonders die Gothen, die stets als die gebildetsten er¬
scheinen. Wie die andern Christen wurden, ist unbekannt.
Die äußerliche Kirchenpracht, die Feierlichkeit des Cultus,
die Kleiduug der Priester, namentlich der Pomp des Alles
geltenden Bischofs trugen am meisten dazu bei, deu rohen
Völkern Neigung zum Christenthum beizubringen. Denn
Heiden gab es Anfangs noch viele. Irland wurde erst
430 vom Schotten Patrik bekehrt; und nach Deutschland
kamen irische Prediger, wie Fridolin zu den Alaman¬
nen, Gall und Columba au den Bodensee, Kilian
nach Franken. Von den Angelsachsen, die seit 596 sich
taufen ließen, zogen Willibrord rc. zu den Friesen,
Winfrid, Bonisacius genannt, der berühmte Apostel
der Deutschen, zu andern deutschen Völkern. Diese Män-
uer errichteten mitten in den Wäldern Kirchen, Lehr¬
anstalten, Zufluchtsstätten, auch sogenannte Klöster, in
welchen sich kleine Vereine von den Angelegenheiten der
Welt zurückzogen, und von denen aus auf weite Distrikte