Full text: Ueber Vaterlandsliebe im Kulturleben der Völker

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Schriftsteller anderer Nationalität in alten Zeiten freilich auch 
bei den Deutschen klagen. Ja, es kann sogar ein ganzes christ¬ 
liches Kirchenthum, insofern es eben als eine von fehlbaren 
Menschen organifirte Gemeinschaft in die Erscheinung tritt, einen 
vaterlandsfeindlichen Charakter annehmen und alle christlich berech¬ 
tigten Eigenthümlichkeiten einer Nation erbarmungslos vernichten: 
allein dann beweist dies durchaus nichts gegen das Christenthum 
als solches, sondern nur, daß jenes Kirchenthum vom wahren 
Christenthum sich in den Orientalismus zurückverirrt hat. Ohne 
hier erörtern zu wollen, ob dies speziell in der römischen Kirche, 
wie vielfach behauptet wird, wirklich der Fall sei, muß ich we¬ 
nigstens daran erinnern, daß dieses System, wie wir früher ge¬ 
sehen, die Bildung und Gesittung der Menschheit nicht fördern 
kann und im Occident auf beständigen und mehr oder weniger 
allgemeinen Kampf sich gefaßt machen muß. Gerade in unserer 
Zeit ist dieser Kampf ja in größerer oder kleinerer Heftigkeit fast 
allenthalben entbrannt. Wenden wir uns nunmehr dem eigenen 
Lande und Volke zu. 
Wie das kleine Europa durch seine Lage mitten auf der 
Halbkugel der größten Landmasse, seine Vorzüge in der horizontalen 
und vertikalen Gliederung des Bodens, seinen gleichmäßig ver¬ 
theilten Reichthnm der hydrographischen Verhältnisse und seine glück¬ 
liche Mischung des Klima's der geistige Mittel- und Vermittlungs¬ 
Erdtheil unseres gesammten Planeten geworden, so nimmt Deutsch¬ 
land aus ähnlichen Gründen eine mittlere und vermittelnde Stel¬ 
lung in Europa ein und scheint demnach von der Vorsehung die 
Bestimmung erhalten zu haben, nicht nur auf diesem kleinen 
Kontinente, sondern auf der ganzen Erde eine vor allen andern 
Ländern ausgezeichnete, eine geradezu universale Bedeutung zu 
gewinnen, gerade wie das vom Christenthum gilt. Nun aber 
brachten die alten Deutschen — abgesehen' von den bloßen und da¬ 
her in aller Freiheit ausbaufähigen Grundlagen des Gefolge- 
uud Lehenswesens, einer staatlichen Form, die höher steht als die 
bis dahin entwickelten — der Annahme und Verbreitung des 
Christenthums zwei glückliche Vorbedingungen entgegen. Das war 
nach des Tacitus, des sittlich-ernstesten SchriftstellKsvdE'MEk^irur 
unverdächtigem Zeugnis, einentheils eine durch die 
^hutbuchtorscnung 
Bravnschweig 
Schulbuchbibliothek
	        
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