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Pfändung einschritt. So wurden denn auf Antrag der Regierung
die aus den Reichssteuern auf die Einzelstaaten entfallenden
Überschüsse in Preußen zur Entlastung der unteren Klassen ver¬
wendet. Alle Einkommen unter 900 Mark wurden
v o n der Steuer befreit, eine Wohlthat, welcher etwa
3 Millionen Steuerzahler teilhaftig wurden*). Weiter gehende
Pläne einer Steuerreform mußten zwar aufgegeben werden,
aber immerhin hatte das hohenzollernfche Königtum in seinem
eigenen Staate auch hier ein Stück socialer Aufgabe gelöst.
Ward so die Förderung der materiellen Interessen Preußens
auch unter der Regierung Wilhelms I. mit Ernst ins Auge
gefaßt, fo erfuhren auch die religiösen und g e i st i g e n
Güter der Nation nicht mindere Beachtung. Preußens Könige
haben nie außer acht gelassen, daß die Wohlfahrt des
Staats in der Kräftigung der letzteren eine we¬
sentliche Stütze habe. Freilich oftmals hatten sie darin
mit widerstrebenden Zeitströmungen einen schweren Kampf zu
führen gehabt. König Wilhelm I., selbst ein ernster, treuer
Christ, war von der Überzeugung durchdrungen, daß nicht allein
für den einzelnen Menschen, sondern auch für die gesunde Ent¬
wickelung des ganzen Staates echte religiöse Gesinnung von be¬
stimmender Bedeutung sei; „Es kommt insbesondere darauf
an, daß dem Volke nicht die Religion verloren gehe," so äußerte
er im Jahre 1878.
Als oberster Bischos der evangelischen Landes- ,^eu-
kirche wandte Kaiser Wilhelm dem Gedeihen derselben^evan-
feine lebhafte Aufmerksamkeit zu. Dabei lag es ihm am Herzen, Kirche"
daß innerhalb derselben ein wahrhaft religiöses Leben, das viel¬
fach entschwunden war, wieder erwache. Er war ein Feind
aller Scheinheiligkeit, er war aber auch ein Feind der Heuchelei
und Unehrlichkeit, welche mit den ernsten und einem wahrhaften
Glaubensgrunde entsprungenen religiösen Begriffen und Vor¬
stellungen, unter Beibehaltung derselben Ausdrücke einen ganz
anderen rationalistischen Sinn zu vereinigen suchte; er war
ein froher Bekenner des Evangeliums und ein Freund wahrer
*) Im ganzen waren 1887/88 von der Zahlung der Klassensteuer be¬
freit über 8 Millionen mit fast 14 Millionen Angehörigen; nur etwas über
I V. Millionen Personen mit über 41/2 Millionen Angehörigen zahlten
überhaupt direkte Klassen- und Einkommensteuer.