56 I. Die Zeit der Konstitutionen.
das Urtheil der Menge irre jenseits — und diesseits
des Rheins.
Es ward immer deutlicher: die Franzosen zu regieren,
erforderte ein ganz besonderes Geschick. Ein klarer Fi¬
nanzkopf, Graf Villele, trat Dez. 21 an die Spitze
eines neuen Ministeriums und suchte auch durch die Bei¬
hilfe der französischen Geistlichkeit den fast erstorbenen
kirchlichen Sinn in den Massen neu zu beleben, was na¬
türlich auf die Royalisten neuen Hohn wälzte. Daß z. B.
Marschall Soult bei einer Prozession eine Kerze trug,
hat man ihm Zeitlebens nicht verziehen. Als die spanische
Revolution immer mehr Verschwörungen im Heere und
bei den Republikanern hervorrief — auch Leute wie der
alte nie gewitzigte Lafayette (III, 514) ließen sich darauf
ein — entschloß sich die Regierung, über die Pyrenäen
zu ziehen (S. 22), ein Unternehmen, das mit glücklichem
Erfolg gekrönt wurde. Doch kannte nun der Triumph
der Royalisten keine Grenzen, daher Ludwig XVIII. von
banger Ahnung gequält, 16. Sept. 24 dahin schied, den
Bruder warnend: „Vergiß nicht, daß du die Krone für
deinen Sohn und Enkel zu bewahren hast!"
Dieser Bruder, Karl X. (1824—30), schon 67 Jahre
alt, ließ sich Mai 1825 in Reims mit allem mittel¬
alterlichen Prunke krönen und wünschte zuvörderst der
Geistlichkeit ihr früheres Ansehen wieder zu geben. Das
ermuthigte allenthalben zu Bestrebungen, welche, wie die
höflichen Gegner sich ausdrückten „die Gleichgültigkeit
Frankreichs folterten," wie die unhöflichen schrieen, eine
Kapuzinerregierung einzuführen drohten. Villele setzte
durch, daß die Emigranten für ihre Verluste durch
1000 Mill. Fcs. entschädigt wurden (14 von diesen er¬
hielt der Herzog von Orleans, Lafayette fast ‘/? Mill.
2C.); er setzte durch, daß alle Kirchenfrevel strenger als
bisher bestraft werden sollten, daß auch wieder Frauen¬
klöster errichtet werden durften; sogar die Jesuiten stell¬
ten sich wieder ein. Damit war viel gewagt. Als Karl
27. April 1827 die Nationalgarde Revue passiren ließ.