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fand ihn ein Landmann, der des Weges kam. Sich be¬
kreuzend eilte dieser weiter; die Gestalt des einsamen Beters
war ihm unheimlich. Am anderen Morgen fand man den
Pilger tot an dem Grabe. Ob hier eine lange
schwere Buße ihren Abschluß gefunden?"
_ Der Vorleser schwieg; leise klappte er das Buch zu.
Tiefe Stille herrschte in dem Saale; nur hier und da hörte
man das mühsam unterdrückte Schluchzen eines Kloster¬
bruders. Vom Turme ertönte die Mitternachtsstunde. „Es
ist spät geworden, meine Brüder", sprach der Abt, indem
er sich erhob; „aber ich denke nicht, daß es Euch gereut,
zugehört zu haben. Welche Lehre aber ist's, die in dieser
Geschichte enthalten ist?"
„Des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht
ist," antwortete einer der Mönche; „das ist die Lehre der
Geschichte".
Zustimmend nickte der Abt mit dem Kopfe; aber ein
anderer Bruder rief: „Habt nicht lieb die Welt, noch
was in der Welt ist. Denn die Welt vergehet mit ihrer
Lust, aber wer Gottes Willen thut, der bleibet in Ewigkeit".
„Auch Du hast recht, lieber Bruder", antwortete
der Abt. „Und so möchten noch einige unter Euch sein,
die eine dritte, eine vierte und fünfte Lehre in der Er¬
zählung finden. Denket den Worten nach in der Einsam¬
keit Eurer Zelle, und morgen Abend, wenn wir uns wieder
hier versammeln, wollen wir die verschiedenen Meinungen
hören und besprechen. Jetzt aber leget Euch zur Ruhe;
denn nur noch wenige Stunden wird es dauern, bis
das Glöcklern zur Vigil ruft. Gelobt sei Jesus Christus!"
„In Ewigkeit, Amen!" erwiderten die Mönche, indem
sie sich vor ihrem Abte und dem Prinzen, die dem Aus¬
gange zuschritten, tief verneigten.
Bald waren alle Lichter ausgelöscht in Amelunxborn,
und tiefe Stille herrschte im ganzen Kloster. Prinz Julius
aber lag noch lange schlaflos auf seinem Lager. Noch ein-
mal zogen die Erlebnisse dieses Tages an ihm vorüber, sich
nach und nach, indem der Schlaf sich auf seine Lider
senkte, verwirrend und ineinanderlaufend, wie die Bilder