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Nachdem Theseus unter vielen Klagen seinen Vater bestattet hatte, weihte
er dem Apollo, was er ihm gelobt hatte. Das Schiff, in welchem er mit den
attischen Jünglingen und Jungfrauen abgefahren und gerettet zurückgekehrt war,
ein Fahrzeug von dreißig Rudern, wurde zum ewigen Andenken von den Athe—
nern aufbewahrt, indem das abgängige Holz immer wieder durch neues ersetzt
ward. Und so wurde dieser heilige Überrest alter Heldenzeit noch geraume Zeit
nach Alexander dem Großen den Freunden des Altertums gezeigt.
Theseus, der jetzt König geworden war, bewies bald, daß er nicht nur ein
Held in Kampf und Fehde sei, sondern auch fähig, einen Staat einzurichten
und ein Volk in Frieden zu beglücken. Hierin that er es selbst seinem Vorbilde
Herkules zuvor. Vor seiner Regierung wohnten die meisten Einwohner Attikas
zerstreut um die Burg und die kleine Stadt herum auf einzelnen Bauernhöfen
und in weilerartigen Dörfern. Sie konnten daher nur schwer zusammengebracht
werden, um über öffentliche Angelegenheiten zu ratschlagen; ja bisweilen gerieten
sie auch über kleinliche Gegenstände des Nachbarbesitzes mit einander in Streit.
Theseus nun war es, der alle Bürger des attischen Gebietes in eine Stadt ver—
und so aus den zerstreuten Gemeinden einen gemeinschaftlichen Staat
ildete.
43. Herakles am Scheidewege.
H. W. Stoll.
Während Herakles auf dem Kithäron weilte, in einem Lebensalter, wo
der Knabe zum Jüngling wird und die ersten ernsten Blicke in die Zukunft
wirft, zog er sich eines Tages von Hirten und Herden weg in die Einsamkeit
und überlegte still dasitzend, in ernste Gedanken versunken, welchen Lebenspfad
er in Zukunft wandeln solle. Da sah er zwei stattliche Frauen auf sich zu—
kommen. Die eine zeigte in ihrem Aussehen Anstand und hohen Adel; ihren
Leib schmückte Reinlichkeit, Bescheidenheit ihr Auge; ihre Haltung war sittsam,
fleckenlos rein ihr Gewand. Die andere hatte einen wohlgenährten, weichlichen
Körper; das Weiß und Rot ihrer Haut war unnatürlich durch Schminke ge—
hoben; ihre Gestalt war über die gewöhnliche Grenze aufgerichtet das Auge
weit geöffnet. Sie betrachtete sich häufig mit Selstgefallen und blickte hierhin
und dahin, ob auch andere sie sähen; oft schaute sie nach ihrem eigenen Schatten.
Als sie näher an Herakles herankamen, ging die erstere ruhig ihren Gang fort,
während die andere, sich vordrängend, zu dem Jünglinge hineilte und sprach:
„Ich sehe, Herakles, daß du unschlüssig bist, welchen Weg des Lebens du ein—
schlaägen follst. Wenn du mich zur Freundin erwählst, so werde ich dich den an—
genehmsten und gemächlichsten Weg führen; du wirst keine Lust ungekostet lassen
und dein Leben ohne alle Beschwerden durchleben. Um Kriege und Geschäfte
wirst du dich wenig kümmern; deine einzige Sorge durch das ganze Leben wird
sein, wie du an köstlichen Speisen und Getränken dich ergötzest, wie du dein
Auge, dein Ohr und die anderen Sinne erfreust, daß du auf dem weichsten
Lager schläfst und ohne Mühe und Arbeit dir die Genüsse alle verschaffst. Soll—
test du je um die Mittel dazu in Verlegenheit sein, so befürchte nicht, daß ich
dich durch viele körperliche und geistige Anstrengungen, durch Gefahr und Not
dazu führen werde; sondern du wirst die Früchte fremden Fleißes genießen und
nichts von dem entbehren, was dir Gewinn bringen kann. Denn ich gewähre
meinen Freunden die Freiheit, von allem Nutzen zu ziehen.“
Als Herakles diese Versprechung hörte, fragte er: „O Weib, wie ist denn
aber dein Name?“ Sie antwortele: „Meine Freunde nennen mich Glückselig—
keit, meine Feinde dagegen, die mich herabsetzen wollen, heißen mich Laster.“