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19. Das Erwachen der Blumen.
Wo sind alle Blumen hin? Schlafen in der Erde drin, weich
vom SchneebeUchen zugedeckt. Stille nur, dass sie Niemand weckt! —
Ueher’s Jahr mit dem Sonnenschein tritt der liehe Gott herein, nimmt
die Decke weg ganz sacht, ruft: „Ihr Kinder, nun all’ erwacht!"
Da kommen die Köpfchen schnell herauf, da thun sich die hellen
Augen auf. Hey.
20. Die bcidnl Ziege».
Zwei Ziegen begegneten sich ans einem schmalen Stege, der über
einen tiefen, reißenden Waldstrom führte; die eine wollte herüber, die
andere hinüber.
„Geh' mir aus dem Wege!" sagte die eine. „Das wäre mir
schön", rief die andere. „Geh' du zurück und lass mich hinüber, ich
war zuerst auf der Brücke."
„Was fällt dir ein?" versetzte die erste; „ich bin so viel älter,
als du, und sollte dir weichen? nimmermehr!"
Beide bestanden immer hartnäckiger daraus, dass sie einander nicht
nachgeben wollten; jede wollte zuerst hinüber, und so kam es vom
Zanke zum Streite und zu Thätlichkeiten. Sie hielten ihre Hörner
vorwärts und rannten zornig gegen einander. Von dem heftigen Stoße
verloren aber beide das Gleichgewicht; sie stürzten mit einander über
den schmalen Steg hinab in den reißenden Waldstrom, aus welchem
sie sich nur mit großer Anstrengung an's User retteten.
So geht's den Eigensinnigen und Hartnäckigen!
Grimms Fabelbibliothek.
21. Das Bienchen.
Das liebe kleine Bienchen sich spät und früh bemüht, es sitzt auf allen
Blümchen, versuchet jede Blüth'. Sehr emsig fliegt es weit und breit, trägt
ein mit großem Fleiß, und sucht die ganze Sommerzeit auch für den Winter
Speis'. Des Knaben Wunderhorn.
22. Die Störche.
Ihr lieben Störche, was habt ihr im Sinn? warum fliegt ihr alle
zur Sonne hin? „Es wird so kalt und schaurig hier, uns friert,
drum ziehen von dannen wir.“ Fliegt hin denn mit eurem leichten
Gefieder, doch, Störche, das bitt’ ich, kommt recht bald wieder!
Und wie sie waren fortgeflogen, da kam der Winter hergezogen;
das leere Nest auf dem Dache droben, das streut er mit Flocken
voll bis oben: doch möcht’ es ein kaltes Lager sein, da konnte sich
wohl kein Storch dran freu’n.
„Die Sonne scheint, der Sommer ist nah, nun sind auch wir
Störche wieder da. Wir haben im fernen Land unterdessen nicht
unser liebes Nest vergessen! Da steht’s noch, nun wollen wir’s putzen
und hüten, und still drin wohnen und fröhlich brüten.“