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Medeas Herz schwoll hoch auf, als sie solche Worte aus dem 
Munde dessen vernahm, den sie heimlich liebte, seit sie ihn zum 
erstenmale gesehen hatte. Jetzt drängte sie aber zum Aufbruch 
nach dem Haine, in dem das Vließ aufbewahrt war. An einem 
hohen Eichbaume hing dasselbe und strahlte mit goldigem Scheine 
durch die Nacht. Unter demselben aber reckte der schlaflose Drache 
seinen langen Hals den Herannahenden entgegen und zischte fürchterlich. 
Die Jungfrau ging ihm keck entgegen, während ihr Jason nicht 
ohne Furcht folgte. Die Jungfrau sang ein Zauberlied, da senkte 
der Drache die Wölbung seines Rückens, und sein geringelter Leib 
dehnte sich auf der Erde aus. Nur der Hals stand noch aufrecht 
und der ausgesperrte Rachen drohte die beiden zu verschlingen. Als 
aber Medea ihn mit einem Zaubersafte besprengte, schlossen sich 
Rachen und Augen, und schlafend streckte das Untier auf der Erde 
sich aus. 
Nun ergriff Jason das Vließ, und eilend entflohen der Held 
und die Jungfrau aus dem Haine. Schon begann die Morgen¬ 
röte zu erglühen, als sie wieder zu dem Schisse kamen, freudig 
empfangen von Jasons Genossen, die bereits von ferne das Vließ 
hatten erglänzen sehen. 
Sobald Jason und die Jungfrau in das Schiff eingestiegen 
waren, in welchem auch Medeas Bruder Absyrtus saß, wurden die 
Anker gelichtet, und unter den kräftigen Ruderschlägen der Helden 
flog das Schiff über die Wogen davon. 
Als Äetes am Morgen den Verlust des goldenen Vließes und 
die Flucht der Argonauten und seiner Tochter erfuhr, gab er sofort 
Befehl, die Flotte der Kolchier zu bemannen und den Räubern nach¬ 
zusegeln; er selbst wollte sich an der Verfolgung beteiligen. Ehe 
aber die nötigen Vorbereitungen getroffen waren, war das Schiff 
der Argonauten schon so weit entfernt, daß man nirgend auf dem 
Meere etwas davon entdecken konnte. 
Medea kannte ihren Vater wohl und fürchtete, daß er sie ein¬ 
holen möchte. Ängstlich schaute sie daher immer aus, ob sie irgend¬ 
wo ein nacheilendes Segel erblicken möchte. Zwei Tage waren ver¬ 
gangen, und nichts hatte sich blicken lassen; am dritten Morgen aber 
gewahrte sie eine ganze Reihe von Segeln, die sie sofort als kol- 
chische erkannte. 
Die Argonauten hatten unterdessen beinahe die ganze Länge 
des schwarzen Meeres zurückgelegt, statt aber wieder durch die 
Meerenge zu fahren, an deren Eingänge die Symplegaden stan¬ 
den, hatten sie sich, einem Orakelspruche folgend, nach der Mün¬ 
dung des Jster (Donau) gewendet. Als sie hier eben in einen 
Arm des Flusses einlaufen wollten, war ihnen Äötes ganz nahe 
gekommen.
	        
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