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XVI. Die macedonische und hellenistische Zeit.
geistige und wirtschaftliche Leben des neuen Griechentums, das man
Hellenismus nennt. Alexandria wurde geradezu der Mittelpunkt
der gebildeten Welt. Die dortige Bibliothek zählte um 200 v. Chr.
gegen 700 000 Bände, und vieles, was wir noch heute an philo¬
logischem, mathematischem und naturkundlichem Wissen besitzen, ist
aus der Gelehrtenwelt Alexandriens auf uns übergegangen; das
Alte Testament ist von alexandrinischen Gelehrten ins Griechische
übersetzt worden. Daneben hielt auch die geistige Blüte Athens noch
jahrhundertelang an.
Alexander selber pflegte nach seiner Rückkehr aus Indien mit
Bewußtsein die hellenistische Mischkultur. In der Politik
übernahm er die Anschauungen des orientalischen Despotismus. Das
Weltreich sollte monarchisch sein, und der Herrscher umgab sich mit
dem prunkvollen Zeremoniell der Perserkönige. Nach dem Vorbilde
der Pharaonen nahm er göttliche Verehrung für sich in Anspruch.
Mit dem morgenländischen Äofleben suchte er griechisches Wesen zu ver¬
binden : Es wurden griechische Feste gefeiert mit Opfern und Aus¬
zügen, Kampfspielen zu Roß, zu Wagen und zu Fuß, mit dichterischen
Wettkämpfen und Preisen, ganz wie in Olympia. Griechische Dich¬
tungen wurden vorgetragen, griechische Melden gefeiert; das Griechische
war Umgangs-- und Verwaltungssprache. Auf die Pflege griechischer
Kunst wurden hohe Summen verwendet. Alexanders Hofmaler
Apelles mußte eine große Anzahl königlicher Bildnisse herstellen, und
der Bildhauer Lysippos wurde mit namhaften Aufträgen bedacht
Um die Verschmelzung zu fördern, mußten sich auf des Königs Be¬
fehl macedonisch-griechische Krieger mit Perserinnen verheiraten, und
Alexander selbst nahm nach orientalischer Sitte mehrere Frauen.
Auf einem großen Hochzeitsfeste zu Susa wurden 10000 solcher
Mischehen geschlossen. In gleicher Weise suchte er auch in den
zahlreichen Provinzen seines Reiches Griechen und Orientalen zu
verbinden. Die Verwaltung sollte gleichmäßig in der Sand vor¬
nehmer Männer von beiderlei Herkunft liegen, sämtliche Untertanen
sollten gleiche Rechte genießen, ohne Rücksicht auf Stand, Bildung,
Besitz und Nation. Griechisch-demokratische Anschauungen sollten
also mit asiatischem Despotismus sich verschmelzen.
Die gegenseitige Durchdringung orientalischen und
griechischen Wesens hatte schon vor Alexander eingesetzt. Ägypten
und Vorderasien hatten schon während des ganzen vierten Jahrhunderts
eine starke griechische Einwanderung erfahren. Als Kaufleute und Hand¬
werker, Künstler, Beamte, Söldner und Söldnerführer lebten Tausende
von Griechen in den persischen Ländern und hellenisierten ganz un¬
vermerkt den Orient. Aber Alexander leistete der großen, seit langer