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deutschen Ausfuhrhandels über See einen ungeheuern Nutzen versprechen.
So frevelhaft das auch ist und wäre, so lehrt uns doch die Geschichte
Englands, daß dies nicht zaudert, einen unbequemen und rührigen
Nebenbuhler zu vernichten. Es kann sich eben noch nicht zu dem Grundsatz
bekennen: Deutschland ist gleichberechtigt nicht bloß zu Lande, sondern
auch zu Wasser, im Welthandel, in der Kolonialpolitik, in der Weltpolitrk.
Einen triftigen Grund zu diesem Vernichtungskriege gibt es aller¬
dings nicht. Die Erde bietet Raum für die Briten wie für die Deut¬
schen. Wir aber sind mehr auf das Festland von Europa angewiesen
und unsre Zukunft liegt nicht in _ dem Sinne wie für England auf dem
Wasser, sondern einzig und allein auf dem Lande, auf der Sicherung
unserer Grenzen und vor allem auch der Grenzen unseres deutschen
Sprachgebietes. Möchte man das diesseit und jenseit des Kanals er¬
kennen und möchte man uns in London in unserer „deutschen" Politik
keine Hemmnisse mehr bereiten wie einst! Doch muß Deutschland durch
seine Flotte und seine Bündnisse so stark sein, daß es England jede
Deutschfeindlichkeit verbieten kann.
V. Rußland als Welt- und Kolonialmacht.
1. Rußland als halbasiatischer Barbarenftaat.
a) Die normannische Zeit.
Rußlands Bevölkerung ist ein Gemisch sehr verschiedener Stämme
und Rassen. Die Hauptmasse bilden Slawen verschiedener Art; die
kräftigen, blonden Großrussen, mit Germanen und Finnen vermischt,
bewohnen die Mitte, den Osten und Norden; die dunkleren Klein»
russen oder Rutheuen, mit tatarischem Blute vermengt, sind im Süd¬
westen ansässig; die hellblonden Weißrussen haben den mittleren
Westen inne. Im Nordwesten stoßen wir aus die finnisch-ugrischen oder
ural-altaischen (finnisch-tatarischen oder turanischen) Finnen, Karelier,
Esten und Liven, denen sich im Norden die Lappen, Ostjaken usw.
zugesellen. In den Ostseeprovinzen herrschen die Lettoslawen vor,
die Litauer, Letten und Altpreußen. Im Süden und Südosten gibt
es mancherlei Gruppen und Stämme der ural-altaischen Völkersamilie,
wie die Chasareu, Polowzer, Wolgabulgaren usw. Bis zum 9. Jahr¬
hundert hatten die Slawen noch keine staatliche Ordnung geschaffen
und sie zerfleischten sich daher in unaufhörlichen Fehden und Kämpfen
und gerieten dadurch auch in Abhängigkeit von mächtigeren, kriegerischen
Nachbarvölkern. Insbesondere herrschte zwischen den Finnen, Litauern
und Slawen meist Kampf und Streit. Um sich der Finnen zu er¬
wehren, riefen um 860 slawische Fürsten am Jlmensee die normannischen
Waräger aus Norwegen zu Hilfe. Sie blieben im Lande, bildeten
den russischen Uradel und verschmolzen mit den Russen. Da sie vom