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Eingang, denn die Felsen hatten sich ganz vorgeschoben und der
Winter mußte sich damit begnügen seine Flocken leicht hinein zu
schütteln; denn im See waren warme Quellen und so hatte der
Frost keine Gewalt über ihn. Ringsumher war ein ewiges
Grünen und Blühen, ein Vogelsingen, das das Wasser von einem
Ufer zum andern trug. Wenn dann der Frieden auf des Sees
stiller Fläche lag, so strömte all das Blühen und Singen ihm
zu; dann lächelte er selig und küßte die Sonnenstrahlen, die mit
warmen Armen nach ihm langten; ja, er umfaßte sie und zog
sie mit unter das Wasser und spielte mit ihnen Verstecken hinter
den Bäumen und unter den Blättern. Er war aber ein so
herrlicher Jüngling, daß ihn alles liebte, was ihn umgab, seine
blauen Augen, grundlos wie der See, dem er entstiegen, seine
frischen Lippen, seine wundervolle Stimme, sein glückseliges Lächeln:
kein Wunder, daß ihn die Sonnenstrahlen suchten, daß das Moos
vor Freude bebte, auf dem er leicht dahinschritt, daß das Blatt
zitterte, das seine Stirn gestreift, daß das Reh noch lange in
den Bach schaute, in dem es sein Bild erblickt, daß die Nixen
und Elfen nur von ihm träumen konnten.
Aber eines Tages zog ein Weinen und Seufzen durch den
Wald, als klagten die Bäume, und von ihren Blättern sielen
die Tropfen und weckten den schönen Schläfer, den die Sonnen¬
strahlen eingewiegt. Erstaunt sah er sich um; da kam eine
Mädchengestalt daher mit bleichem Gesicht und traurigen Augen
und langem, schwarzem Haar, die zog die matten Füße über das
Moos und fiel vor ihm nieder. „Wer bist du denn?" fragte
er erstaunt. „Ich bin das Leiden, mich schickt die Mutter Geduld
zu dir." — „Wer ist die Mutter Geduld und wer ist das Leiden?
Ich habe noch nie von ihnen gehört." — „Du hast noch vieles
nicht gehört, denn du kennst die Welt nicht!" Der Frieden lächelte:
„Kennst du sie denn?" Das Leiden seufzte und nickte mit dem
Kopf: „Sieh mich an," sagte sie; „bin ich schön?" Der Frieden
sah sie lange an und las und las in den dunkeln Augen schweigend
ernst die Geschichte der ganzen Welt. Das Leiden fand Seligkeit
in seinem Angesicht und mit jeder Stunde ward es der armen
Maid heißer im Herzen und die Liebe zog darin ein mit ihrer
ganzen Gewalt. Als der Abend herankam, hatte der Frieden