Full text: Neuere Geschichte von 1648 - 1888 (Teil 3)

§ 6. Die inneren Zustände in dem Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden. 45 
Besitzes auch feinen Mannesstolz eingebüßt; außer in den Familien, die den 
alten Reichtum zu bewahren vermocht oder neue große Mittel erworben 
hatten und nun bei Hochzeiten und Kindtaufen aufs üppigste lebten, herrschte 
in den engen, niedrigen Stuben der Bürger größte Schlichtheit. Ein pein¬ 
liches, geziertes und unnatürliches Wesen, wonach die Kinder die Eltern 
mit „Sie" anzureden hatten, nahm auch sie gefangen. Der große Unter¬ 
nehmungsgeist fehlte; aber zuverlässige Beamte, fleißige Gelehrte und begabte 
Künstler gingen ans dem Bürgerstande hervor. Die Bauernschaft sah 
am Ende des 17. und im 18. Jahrhundert (bis auf Tirol, die preußischen 
Krongüter und einige andere Plätze, z. B. die Nordseemarschen) das höchste 
Maß ihrer Leiden erfüllt; an vielen Stellen mußte sie fünf Tage in der 
Woche fronen. So verwahrloste sie und wurde, von allen verachtet, tückisch 
und unzugänglich. Fast durchweg blieb es bei der alten Dreifelderwirtschaft. 
Wegen der höheren Erträge aus der Viehzucht ging der Großgrundbesitz 
zur Feldgraswirtfchaft mit Stallfütterung über. Von neuen Kulturpflanzen 
verbreiteten sich der Tabak und besonders die Kartoffel. 
5. Die Erwerbszweige. Zur Förderung der Landwirtschaft 
geschah manches; so in Preußen, wo die Staatsländereien dem Bauer als 
Muster dienen sollten. Handel und Gewerbe hoben sich äußerst langsam 
wieder empor. Schneller ging es dort vorwärts, wo, wie im Osten des 
Reiches, der Staat tatkräftig für sie wirkte, und alte Plätze ersten Ranges, 
wie Hamburg, Frankfurt am Main, Bremen und Leipzig, reich an 
ererbter Erfahrung und zielbewußten Strebens, weiterhin alle ihre Kräfte 
auf den Handel verwandten. In Sachsen blühten Tuchmacherei, Lein¬ 
weberei, Spitzenklöppelei und Bergbau wieder auf; eingewanderte böhmische 
Flüchtlinge bauten Musik-Instrumente; zum Kunstgewerbe, das vom Hofe 
viele Bestellungen erhielt, kam die Herstellung des Porzellans, das der 
Goldmacher Böttger erfunden hatte; die erste Porzellanfabrik wurde 
(1710) auf der Meißner Albrechtsburg eingerichtet. Wie der Mangel an 
Freiheit, Große und Einfachheit im Leben keine große Kunst aufkommen 
ließ, so litten die Kleinkunst und das Kunst Hand werk an der sklavischen 
Nachahmung der Franzosen und an der allgemeinen Armut. Die Sitz¬ 
möbel wurden den Bedürfnissen des französischen Salons angepaßt, an die 
Stelle kraftvoller Profilierung und kunstvoller Schnitzerei trat teils die 
Furnierung, teils das effektreiche Flächenmofaik der Boule-Arbeit; Bronze 
und Kupfer, Vergoldung und Versilberung mußten das Edelmetall ersetzen. 
Das Porzellan eignete sich besonders für Tafelgerät, Nippes- und Boudoir¬ 
fachen im Rokokostil. Majolika und Fayence gerieten ganz unter den Ein¬ 
fluß der Porzellantechnik. Die Goldfchmiedekunst verfiel; nur die zier¬ 
liche Emailkunst erblühte an Uhren und Dosen. Glasfchleiferei und 
Eisenschmiedekunst leisteten Großes. Aber an die Stelle der gediegenen 
Ledertapeten traten Papiertapeten, die Glasmalerei verschwand mit der kost¬ 
spieligen Sitte des „Fensterschenkens", die Spielform des Eckschranks ersetzte 
den großen Schenkschrank, die zierliche „Kommode" den würdigen, eichenen 
Wäscheschrank, und nur in den reichen Seestädten prangte noch der stolze 
„Hamburger Schrank".
	        
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