§ 6. Die inneren Zustände in dem Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden. 45
Besitzes auch feinen Mannesstolz eingebüßt; außer in den Familien, die den
alten Reichtum zu bewahren vermocht oder neue große Mittel erworben
hatten und nun bei Hochzeiten und Kindtaufen aufs üppigste lebten, herrschte
in den engen, niedrigen Stuben der Bürger größte Schlichtheit. Ein pein¬
liches, geziertes und unnatürliches Wesen, wonach die Kinder die Eltern
mit „Sie" anzureden hatten, nahm auch sie gefangen. Der große Unter¬
nehmungsgeist fehlte; aber zuverlässige Beamte, fleißige Gelehrte und begabte
Künstler gingen ans dem Bürgerstande hervor. Die Bauernschaft sah
am Ende des 17. und im 18. Jahrhundert (bis auf Tirol, die preußischen
Krongüter und einige andere Plätze, z. B. die Nordseemarschen) das höchste
Maß ihrer Leiden erfüllt; an vielen Stellen mußte sie fünf Tage in der
Woche fronen. So verwahrloste sie und wurde, von allen verachtet, tückisch
und unzugänglich. Fast durchweg blieb es bei der alten Dreifelderwirtschaft.
Wegen der höheren Erträge aus der Viehzucht ging der Großgrundbesitz
zur Feldgraswirtfchaft mit Stallfütterung über. Von neuen Kulturpflanzen
verbreiteten sich der Tabak und besonders die Kartoffel.
5. Die Erwerbszweige. Zur Förderung der Landwirtschaft
geschah manches; so in Preußen, wo die Staatsländereien dem Bauer als
Muster dienen sollten. Handel und Gewerbe hoben sich äußerst langsam
wieder empor. Schneller ging es dort vorwärts, wo, wie im Osten des
Reiches, der Staat tatkräftig für sie wirkte, und alte Plätze ersten Ranges,
wie Hamburg, Frankfurt am Main, Bremen und Leipzig, reich an
ererbter Erfahrung und zielbewußten Strebens, weiterhin alle ihre Kräfte
auf den Handel verwandten. In Sachsen blühten Tuchmacherei, Lein¬
weberei, Spitzenklöppelei und Bergbau wieder auf; eingewanderte böhmische
Flüchtlinge bauten Musik-Instrumente; zum Kunstgewerbe, das vom Hofe
viele Bestellungen erhielt, kam die Herstellung des Porzellans, das der
Goldmacher Böttger erfunden hatte; die erste Porzellanfabrik wurde
(1710) auf der Meißner Albrechtsburg eingerichtet. Wie der Mangel an
Freiheit, Große und Einfachheit im Leben keine große Kunst aufkommen
ließ, so litten die Kleinkunst und das Kunst Hand werk an der sklavischen
Nachahmung der Franzosen und an der allgemeinen Armut. Die Sitz¬
möbel wurden den Bedürfnissen des französischen Salons angepaßt, an die
Stelle kraftvoller Profilierung und kunstvoller Schnitzerei trat teils die
Furnierung, teils das effektreiche Flächenmofaik der Boule-Arbeit; Bronze
und Kupfer, Vergoldung und Versilberung mußten das Edelmetall ersetzen.
Das Porzellan eignete sich besonders für Tafelgerät, Nippes- und Boudoir¬
fachen im Rokokostil. Majolika und Fayence gerieten ganz unter den Ein¬
fluß der Porzellantechnik. Die Goldfchmiedekunst verfiel; nur die zier¬
liche Emailkunst erblühte an Uhren und Dosen. Glasfchleiferei und
Eisenschmiedekunst leisteten Großes. Aber an die Stelle der gediegenen
Ledertapeten traten Papiertapeten, die Glasmalerei verschwand mit der kost¬
spieligen Sitte des „Fensterschenkens", die Spielform des Eckschranks ersetzte
den großen Schenkschrank, die zierliche „Kommode" den würdigen, eichenen
Wäscheschrank, und nur in den reichen Seestädten prangte noch der stolze
„Hamburger Schrank".