§ 22. Die griechische Kunst und Wissenschaft in der dritten Periode. 57
6. Redekunst. Da das öffentliche Leben des athenischen
Gemeinwesens der einzelnen Persönlichkeit ungemein viel Spiel¬
raum gewährte, so war naturgemäß die Beredsamkeit
von größter Bedeutung. Durch sie beherrschte man das Volk,
welchem die Verhandlungen der Versammlungen anzuhören eins
der interessantesten Schauspiele war. Während die Redekunst der
älteren Zeit (Themistokles, Perikles) Einfachheit der Worte
und Gedanken liebte und weniger auf die Schönheit als auf die
Wahrheit und Überzeugungskraft des Gesagten sah, fing man seit der
Zeit der Sophisten an, die Rede kunstvoll zu feilen und oft die Form
dem Inhalte gegenüber zu überschätzen. Bei manchen Rednern, wie
Jsokrates (Panegyrikos d. i. Lobrede auf die Athener) und
Jsäos, artete dieses Streben zu einer gewissen gesuchten Künst¬
lichkeit aus. Gleichwohl fällt in diese Periode das Wirken des
größten aller antiken Redner, Demosthenes (385—322). Bei ihm 385
sind Form und Inhalt durchaus im Einklang, und alles, was er 6i§
sagte, ist der Ausdruck einer idealen tiefgewnrzelten Überzeugung. 322
Er strebte durch seine Reden, von denen die berühmtesten die Philip¬
piken (d. i. die gegen Philipp von Makedonien gerichteten) und
die „Rede für den Kranz" sind, die Griechen zum Widerstände
gegen das Eindringen der makedonischen Macht aufzufordern. Aber
ivie wenig sein Streben Erfolg hatte, haben wir schon gesehen
(§ 21). Ein hochbegabter und gewandter Redner war auch Äschi-
n e s, des Demosthenes Gegner; aber seine unpatriotische, makedo¬
nische Gesinnung drückt seinem Charakter einen Makel auf.
7. Geschichtschreibung. Die Geschichtschreibung nahm durch
die Perserkriege einen mächtigen Aufschwung. Während früher nur
die Geschichte einzelner Orte oder Landschaften aufgezeichnet war
und zwischen Sage und Geschichte nicht unterschieden wurde, trat
)etzt in .Aerodot (484 408) ein Mann auf, der in seiner Ge-484
schichte der Kriege zwischen Hellenen und Persern feinen bis
Gesichtskreis über ganz Griechenland erweiterte. In schlichter, treu- 408
herziger Sprache entwirft er ein treffliches Bild des glorreichen
Kampfes. Aber er fügt auch episodenweis alles ein, was er auf
seinen großen Reisen nach Ägypten (Buch II), Kleinasien, Syrien,
Babylonien, Persien, in die Donauländer rc. gesehen und gehört hatte.'
Fremden Mitteilungen gegenüber ist er von großer Leichtgläubig¬
keit, wenngleich er bei besonders unwahrscheinlichen Überlieferungen
seine Zweifel doch nicht zurückhält. Das Werk ist eingeteilt in