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58. Die Nibelungensage.
und Giselher, und eine liebliche Schwester, Kriemhilde. Unter den kühnen
Recken, die ihn umgaben, ragten besonders Hagen von Tronje, Volker und
Dankwart hervor. Siegfried hört zu kanten von der Schönheit und^Holdselig-
keit Kriemhildens und beschließt um sie zu werben. Mit zwöls Rittern reitet er
vor der Königsburg zu Worms auf. Niemand kennt sie; aber der vielgereiste
Hagen meint sogleich: „Das muß der berühmte Siegfried sein; empfanget ihn wohl!"
So wird denn der Held aus Niederland mit großen Ehren aufgenommen. Ein
ganzes Jahr weilt er am burguudischen Hofe, ohne Kriemhilde zu schauen; denn
die Sitte der Zeit erforderte es, daß edle Frauen zurückgezogen in ihrer Kemnate
(Frauengemach) lebten. Doch sah Kriemhilde zuweilen von ihrem Fenster aus mit
heimlichem Wohlgefallen, den herrlichen Helden. Nun geschah es, daß die Burgunder
von Feinden angegriffen wurden und daß Siegfried seinen Wirten den Sieg ge¬
wann. Da wurde ein großes Freudenfest veranstaltet, und bei dieser Gelegenheit
begrüßte Siegfried zuerst die errötende Königstochter, die sein ganzes Herz gewann.
4. Fahrt nach iSfCltltttlb. Um diese Zeit gelangte nach Worms der Ruf
der Prinzessin Brnnhildevon Jsenland. Dieselbe war von wunderbarer Schönheit,
aber auch von ungeheurer Kraft. Nur dem wollte sie sich vermählen, der sie im
Wettspiel besiegte; wer aber unterlag, der sollte sterben. Schon mancher Held hatte
sich den Tod geholt; jetzt trieb es Günther, sein Glück zu versuchen. „Doch nur, wenn
du mir beistehst", sprach er zu Siegfried, „so wage ich's." „Ich will dir helfen",
erwiderte Siegfried, „wenn du mir deiner Schwester Hand versprichst." Das that
Günther mit Freuden. Die Reise wurde angetreten; es ging den Rhein hinab ins
Meer. Nach I2tägiger Fahrt lag Brunhildens prächtige Burg Jsenstein vor ihnen;
sie war aus grünem Marmor und hatte 86 Türme. Als die Helden landeten,
sprach Siegfried zu Günther: „Hier will ich als dein Dienstmann gelten, damit
Brunhilde nur auf dich und nicht auf mich scheint." — Brunhilde empfängt die
Fremden artig und ist zum Wettkampf bereit. „Du mußt", belehrt sie Günther,
„mich im Speerkampf, im Steinwurf und im Sprunge besiegen; unterliegst du in
einem einzigen Stücke, so geht es euch allen ans Leben." Sie läßt sich Schild und
Speer bringen, und zwölf Männer tragen mühsam den zu schleudernden Stein
herbei. Da ruft Hagen entsetzt aus: „Dieses Weib vermag selbst der Satan nicht
zu bezwingen!" Günther ist noch verzagter; doch Siegfried steht unsichtbar in der
Tarnkappe bei ihm und spricht leise: „Nur Mut! mach du nur die Geberden; ich
will in Wirklichkeit den Kampf für dich bestehen." Sausend fährt jetzt Brnnhildens
Speer gegen Günthers Schild, den Siegfried hält. Der Held strauchelt und das
Blut fließt ihm aus dem Munde; doch ermannt er sich und schleudert den Speer
mit solcher Macht auf Brnnhild zurück, daß sie zu Boden stürzt. Zornig springt
sie wieder auf, schlendert den Steinblock zwölf Klafter weit und folgt ihm im
Sprunge, so daß Helm und Panzer erklingen. Siegfried aber wirft den Stein
noch weiter und setzt springend über Brunhildens Ziel hinaus, wobei er Günther
mit den Armen trägt. Da ist die Braut gewonnen. Brunhilde führt mit nach
Worms, und hier wird mit großer Pracht die doppelte Hochzeit — zwischen Günther
und Brunhilde, Siegfried und Kriemhilde — gefeiert. Nach dem Feste zieht Sieg¬
sried mit seinem jungen Weibe nach Xanten und übernimmt seines Vaters Reich.
5. Streit der beiden Königinnen. In Brunhildens Herzen lebte
ein heimlicher Argwohn, daß ein falsches Spiel mit ihr getrieben sei. Sie hätte
gern gesehen, daß Siegfried um sie geworben hätte; aber man hatte ihr gesagt, er