1. Ursprung und Charakter der Homerischen Gedichte.
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griechischen Hünen- oder Heldengrüber, welche die Volkssage dem Achilles
und seinem Patroklus zueignete, an denen Alerander weinte, den Achill
beneidend, daß er, seinen Ruhm zu besingen, einen Homer gefunden hatte,
sind schon zur Zeit des Dichters selbst vorhanden gewesen, wie man aus
einigen Stellen der Ilias sieht. Erst der Wißbegier oder dem Frevel
unserer Zeit war es vorbehalten, diese Gräber aufzuwühlen und die Asche
und übrigen Angedenken der Helden, die sich wirklich darin noch fanden,
ihrer geheiligten Ruhestätte zu entreißen. Wäre aber der trojanische Krieg
ganz und gar nur eine Fabel und willkürliche Dichtung — für den Zweck,
den Solon und Pisistratus wollten, und für den patriotischen Eindruck,
den die wiedererweckten Gedichte machen sollten, war es gleich; denn die Be¬
gebenheit wurde allgemein geglaubt, für wahr und geschichtlich gehalten.
So hatten die Homerischen Gedichte für die Griechen jener Zeit wahr¬
scheinlich noch eine nähere vaterländische Beziehung und Bedeutung, wäh¬
rend sie uns am meisten auffallen durch die Allgemeinheit der schönen
Darstellung und des großen Bildes, welches sie uns vom Heldenleben
entwerfen. Hier zeigt sich keine enge Denkart und Ansicht, die nur an
einem beschränkten Raume klebte, um den Ruhm und Vorzug irgend eines
besondern Stammes sich drehte, wie dies wohl in den alten arabischen
Gesängen oder in Ossians Liedern der Fall ist. Ein freier Geist atmet
aus diesen Gedichten, ein offener, reiner, für alle Eindrücke und Erschei¬
nungen der Natur wie für alle Gestalten der Menschheit empfänglicher
und klarer Sinn. Deutlich und schön gestaltet breitet sich hier eine ganze
Welt vor unseren Blicken aus, ein reiches, lebendiges, immer bewegliches
Gemälde. Die beiden Heldengestalten Achilles und Ulysses, welche aus
diesem heitern Weltgemälde als die Hauptfiguren hervorragen, sind so
allgemeine Charaktere und Ideen, daß wir sie fast in allen Heldensagen
wiederfinden, nur nicht immer so glücklich entwickelt und so herrlich voll¬
endet. Achilles, ein jugendlicher Held, der in der Fülle siegreicher Kraft
und Schönheit alle Herrlichkeit des flüchtigen Lebens erschöpfen soll, aber
schon im voraus zu einem frühzeitigen Tode und tragischen Schicksale be¬
stimmt war, ist der erste und erhabenste dieser Charaktere, und ein Cha¬
rakter, ein Anklang dieser Art findet sich in unzähligen Heldensagen wieder,
am schönsten nächst den griechischen vielleicht in unseren nordischen. Auch
bei den heitersten Völkern umschwebt die Sage und Erinnerung der Helden¬
zeit ein halb schmerzliches und liebevoll klagendes, elegisches, ja oft gar
tragisches Gefühl, das uns aus dem Innersten dieser Dichtungen an¬
spricht, sei es nun, daß der Untergang einer freiern und großen Heldenzeit
den ungebundeneren Nachkommen wirklich diesen Eindruck hinterlassen hat,
oder daß die Dichter jenes Gefühl von Trauer und Sehnsucht, das allen
Menschen aus alter Erinnerung eines verlorenen, ursprünglich seligen