1. Semiramis.
Zu der Zeit, da die Richter in Israel regierten, wurde die
Göttin Derketo von Askalon, der die Fische und Tauben gehei¬
ligt waren, Mutter eines lieblichen Mädchens. Besondere Um¬
stände zwangen die Göttin, das Kind in einer öden Felsengegend
auszusetzen, wo es indes von den Tauben ernährt wurde, die
ihm in ihren Schnäbeln Milch und Käse brachten. So fanden
es die in der Nähe weidenden Hirten, welche das Mädchen dem
Oberhirten Simmias übergaben, bei dem es unter dem Namen
Semiramis d. i. Taube zu einer blühenden Jungfrau heranwuchs.
Da geschah es, daß der Statthalter Onnes bei einer Musterung
der königlichen Herden in das Haus des Simmias kam. Er er¬
blickte Semiramis, und hingerissen von ihrer Schönheit erkor er
die Liebreizende zu seiner Gemahlin.
Onnes stand in den Diensten des Königs Ninus von Assyrien,
des Erbauers der Stadt Ninive. Dieser hatte bereits Babel er¬
obert und die Armenier, Meder und Perser sowie die Völker
Kleinasiens unterworfen und wollte nun auch die Baktrer im
heutigen Turkestan unter seine Herrschaft beugen. Aber die Geg¬
ner wehrten sich mit der größten Tapferkeit, und trotz seiner un¬
geheuren Kriegsmacht vermochte er die feste Hauptstadt Baktra,
das jetzige Balkh, lange nicht einzunehmen. Da bekam Onnes
Sehnsucht nach seinem Weibe Semiramis, und er ließ sie zu sich
ins Lager kommen. Die letztere gewahrte bald, daß die Baktrer
wohl die Mauern und Zugänge der Stadt verteidigten, die Burg
aber im Vertrauen auf deren gesicherte Lage wenig bewachten.
Sie sammelte daher eine im Klettern geübte Schar, erstieg mit
dieser während eines allgemeinen Sturmes den Felsen, auf wel¬
chem die Burg stand, und brachte dieselbe in ihre Gewalt. Den
Baktrern entfiel der Mut, sie begannen im Kampfe zu ermatten,
und die Assyrer drangen in die Stadt. Nimts ehrte die kühne
Frau mit reichen Geschenken, und als er ihre Schönheit sah,
zwang er Onnes, sie ihm abzutreten. So wurde Semiramis die
Gemahlin des Königs, ihr erster Gatte aber nahm sich aus
Trauer und Verzweiflung selbst das Leben.
Bald nachher starb Ninus, und Semiramis folgte ihm auf
dem assyrischen Königsthrone. Sie regierte 42 Jahre lang mit