Unter russischem Schutz 25
Umständlichkeit schon gut heißen. 1765,11. ©ft. wurde das neue Rathaus
bezogen. Des Morgens früh wurde von den Stadtwällen mit drei Kanonen¬
schüssen die Feier des Tages und zugleich mit den Glocken der Gottesdienst
in der Domfirche angekündiget. Den Zug von der Kirche machten die altert
Leute und Heltesten von der großen und fleinen Gilde paarweise nach dem
Rathhause, und ihnen folgte der Magistrat in Kutschen. In der Kirche hielt
der ©berpastor von Essen eine predigt, voll der wärmsten patriotischen
Empfindung dieser Feier und die des Eifers der Bürgerschaft, die ihre neue
Gerichtsstätte, anständig und schön, aus sich selbst auferlegten handlungs-
abgaben erbaut, würdig war. 3m Gerichtssaal roeihete der Bürgermeister
stndreä ihn durch eine Rede ein. Den Nachmittag war der Schulact, wobei
Herder jene Rede hielt; und am Abend war in dem Börfenfaal des Rath¬
hauses ein großes Vocal- und Instrumental-Concert, wozu die Einladungs¬
billets folgende Aufschrift hatten:
„® Tag, den Enkel uns beneiden,
dein Anfang sey Gebet, dein Schluß ein Tag der Freuden,
und beidemale jauchz' ein jeder Patriot:
hier wohnet Vaterland, Recht, Freiheit, Handel — (Bott!"
So lebte Herder unter uns in einer Seit, wo Lies- und Lurland ihm damals
Länder und Menschen darstellten, die unter einer milden Regierung in Frei¬
heit und glücklichem Lebensgenuß ihm die Bilder zu feinem Ideal von
Länderwohl in feiner Rede darboten. Einwohner und Provinzen waren
nach langen Kriegszeiten in einem neuen warmen Aufleben; aus der Er¬
zählung der Alten war noch so viel (Erinnerung jener Seiten zurückgeblieben,
um mit liebevoller Anhänglichfeit an die [so] jetzige gute Lage und Verfassung
des guten Vaterlandes und mit einer durch herfommert und Religiosität
geläuterten Frömmigkeit desto roärmer zu hängen.
So war die Zeit, von der Herder mir vor etwa zehn Jahren schrieb:
„Diese Zeiten, in die mich Ihr Brief versetzt, da wir beide Jünglinge waren,
find mir äußerst erfreulich: sie find für mich ein gar schöner Traum und
werden es bleiben. Das Andenken meiner Jugendfreunde ist mir wie der
Genuß eines schönen Gartens; keiner ist mir alt geworden, alle leben noch
in meiner Erinnerung, wie sie damals lebten, ich lasse ihnen gerne diese
glücklich stehenden Jahre."
2. Alexander von Humboldt in Nur- und Livland.1
Alexander von Humboldt schreibt an seinen Bruder Wilhelm: ^
rtarva, den 29. April 1829.
heute, den 16. Tag unserer Abreise von Berlin, theuerer, innigst ge¬
liebter Wilhelm, find wir noch nicht in Petersburg, ob wir gleich vors ätz-
1 Auch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts blieben die baltischen Pro¬
vinzen von russischen Bedrückungen im allgemeinen verschont.
2 Sitzungsberichte der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat 1880, S.77f.