Full text: Das Mittelalter (Theil 2)

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Tarnkappe mit sich, die er einst den Zwergen abgewonnen hatte und welche 
ihren Träger unsichtbar machte. Die Diener trugen die goldfarbenen 
Schilde der Helden an's Ufer, brachten ihr Gewand und führten auch die 
Rosse herzu. Da standen an den Fenstern die lieblichen Kinder und weinten 
sehr; aber ein frischer Wind blähete die Segel des Schiffes und die stolzen 
Heergesellen stiegen wohlgemuth ein und saßen auf dem Rheine. „Wer 
will Schiffmeister sein?" rief König Günther. Alsbald ergriff Siegfried 
eine Ruderstange und schob kräftig vom Gestade; der König Günther 
nahm selbst ein Ruder und so huben sich die Ritter vom Lande. Sie 
führten reiche Speise mit sich, dazu auch guten Wein, den besten, den man 
am Rheine finden konnte. Ihre Rosse standen ruhig, das Schiff ging 
sanft dahin und auf dem ganzen Wege widerfuhr ihnen kein Leid. 
Am zwölften Morgen hatten die Winde sie vor den Jsenstein ge¬ 
bracht, wo Brunhilde herrschte. Sechsundachtzig Thürme sahen sie aus 
dem Lande ragen, vor ihnen standen drei große Paläste; sie traten in 
einen wohlgebauten Saal von edlem Marmorstein, in welchem Brunhilde 
mit ihrer Dienerschaft wohnte. Die Burg war weit aufgethan; Brun- 
hilden's Mannen liefen ihnen entgegen, empfingen die Gäste im Lande 
ihrer Königin, führten ihre Rosse hinweg und nahmen auch ihre Waffen 
in Empfang. Als nun die Königin Siegfrieden sah, sprach sie züchtig zu 
dem Gaste: „Seid willkommen, Herr Siegfried, allhier in diesem Lande. 
Was bedeutet eure Reise? Das möcht' ich gern wissen." Siegfried ant¬ 
wortete: „Hier ist Günther, ein König reich und hehr, der keinen Wunsch 
weiter kennet, wofern er deine Hand gewonnen hätte. Um deinetwillen 
bin ich mit ihm hierher gefahren; wäre es nicht mein Herr, ich hätte 
es mmmer gethan." Sie sprach: „Nun wohl, wenn er vermeint, die 
Spiele, die ich ihm zuertheilen werde, zu bestehen, so werde ich sein Weib; 
gewinne aber ich, so geht es euch Allen an's Leben. Den Stein soll er 
werfen und darnach springen, sodann soll er mir den Speer schießen und 
endlich mit mir ringen. Seid nicht zu jach! Ihr könnt hier Ehre und 
Leben verlieren; darum bedenkt euch wohl!" — Siegfried der Schnelle 
trat zum König und munterte ihn auf, gutes Muthes zu sein; er wolle 
ihn schon behüten. Da sprach der König Günther: „Hohe Königin! Theilet 
mir zu, was ihr gebietet; und wäre es auch noch mehr. Ich will mein 
Haupt verlieren, so ihr nicht mein Weib werdet!" 
Als die Königin seine Rede vernahm, hieß sie die Spiele beschleunigen. 
Ihre Diener brachten ihr das Kriegsgewand, einen Panzer von rothem 
Golde und einen guten Schild. Derweilen war auch Siegfried, der starke 
Mann, zum Schiffe gegangen, ohne daß es Jemand wußte; dort schlüpfte 
er in seine Tarnkappe und Niemand sah ihn nun. Als er zurückkam, stan¬ 
den viele Recken um die Königin, die ihre hohen Spiele ordnete. Heimlich 
ging Siegfried umher und Niemand erkannte ihn. Jetzt trug man der 
Frau einen schweren und großen, starken und gewaltigen Speer herbei, der 
an ber Spitze schrecklich schnitt. Da sprach Hagen's Schwestersohn, der 
kühne Ortwin: „Mich reuet die Reise an diesen Hof von Herzen. Sollen 
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