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Heer das wehrlose griechische Reich. Verzagt barg sich Zeno hinter den
Wällen seiner Hauptstadt. Aber von seinem Palaste aus sah er den
Himmel geröthet von dem Brande der Städte und Dörfer ringsumher,
deren unglückliche Bewohner schwer für die Treulosigkeit ihres Herrschers
büßen mußten. Zeno hatte kein Heer, das vermocht hätte, den Kampf
mit dem furchtbaren Gegner zu bestehen. Durch neue Unterhandlungen
und große Versprechungen hoffte er den Frieden zu gewinnen. Aber
Theodorich hatte kein Ohr mehr für die glatten Worte des griechischen
Hofes. Der Krieg zog sich in die Länge, denn das feste Byzanz war
schwer zu erobern. Da stieg plötzlich in der Seele des jungen Gothenkönigs
ein großer Gedanke auf. Er wollte seine Gothen in ein mächtiges, ge¬
schloffenes Reich vereinigen und im Frieden regieren; er wollte sie weg¬
führen von der Nachbarschaft der treulosen Griechen in ein besseres Land,
wo der Segen des Friedens die Gothen zu einem gebildeten, wohlhabenden
Volke machen sollte. Gleich dem Alarich wollte er sie in die gesegneten
Fluren Italiens führen, eines Landes, dessen schlaffe, weiche Bevölkerung
nicht lange der gothischen Tapferkeit widerstehen konnte.
5.
Doch eben dieses Italien war bereits in kläglicher Hülflosigkeit den
Waffen eines deutschen Fürsten unterlegen. Dieser Fürst war Odoaker
oder Ottokar. Odoaker war ein Mann von schlichter Herkunft, aber
nach dem Höchsten strebend und früh schon die Ahnung künftiger Größe
in sich tragend. Eine alte Sage berichtet darüber also: Einst hatten sich
mehrere deutsche Männer verabredet, gemeinsam nach Italien zu wandern
und dort im römischen Kriegsdienst ihr Glück zu versuchen. Unter ihnen
befand sich auch ein schöner, kräftiger Jüngling von hoher Gestalt und
feurigem Auge. Auf ihrer Wanderung kamen sie durch die Gegend, wo
jetzt P a s s a u liegt. Hier wohnte ein frommer Einsiedler, Severin us
geheißen. Der war aus fernen Landen gekommen, um in Deutschland das
Christenthum zu verkündigen. Odoaker aber und seine Genossen waren
dem Christenthum schon zugethan. Da pilgerten sie denn nach der ein¬
samen Wohnung Severin's und begehrten den Segen des heiligen Mannes
zu empfangen. Sie traten ein in die kleine Hütte. Der riesengroße Odoaker
aber mußte in gebückter Stellung dastehen, um nicht mit den: Haupte an
die niedrige Decke des Gemaches zu stoßen. Da sah ihn der Klausner
an und sagte: „Ziehe getrost hin nach Italien, jetzt trägst du ein geringes
Kleid, einst aber wirst du ein Herrscher werden über Viele I" Und Odoaker
zog fröhlich seine Straße.
In Italien herrschte bei Odoaker's Ankunft große Verwirrung. Von
der allgemeinen Wanderlust ergriffen, waren mehrere kleine deutsche Völker¬
schaften über die Alpen hinabgestiegen in die schönen Ebenen des Po und
hatten Gefallen gefunden an dem einem Garten gleichenden Lande. Unter
ihnen waren die Rugier die an Zahl und Kraft hervorragendsten. Sie
hatten an den einförmigen Ufern der Ostsee im heutigen Pommern ge-