Einleitung.
Der belgische Staat entsteht im Revolutionsjahr 1830 (1), dessen über¬
hitzte Atmosphäre die lange angesammelte Mißstimmung gegen die hol¬
ländische Herrschaft (2) zur (Entladung bringt. Dieser revolutionäre Ursprung
bestimmt von vornherein den Ausbau des Staatsgebäudes, dessen Grund¬
pfeiler die Volkssouveränität (8) und der Grundsatz größtmöglichster Frei¬
heit des Individuums vom Staate (13) sind. Daneben ist ein Zweites von
entscheidendster Bedeutung: die widerstreitenden Interessen der Großmächte,
während die Dstmächte, getreu der herrschenden politischen Theorie des Zeit¬
alters, ursprünglich den Standpunkt der Legitimität uneingeschränkt vertre¬
ten (3, 5), erscheint Frankreich von Anfang an als der Freund und Geburts¬
helfer des jungen Staates, ohne doch dabei von eigensüchtigen Nebenab¬
sichten frei zu sein, die es immer wieder und auf stets neuen wegen zu ver¬
wirklichen trachtet (7 a, 9, 11). Dabei begegnet es dem Widerstände aller
Großmächte (10), vor allem dem (Englands, dessen entscheidendes Interesse
die Festsetzung einer Großmacht an der seinen Häfen gegenüberliegenden
Kanalküfte verbietet (7 b). Aus dem widerspiel dieser Kräfte und Gegen¬
kräfte ergeben sich die entscheidenden Tatsachen, welche die (Einordnung Bel¬
giens in das europäische Staatensystem bestimmen: die Unabhängigkeit auf der
einen Seite (4), daneben als Ausdruck und (Ergebnis nicht eigener, sondern
fremder Interessen die Neutralisierung (6, 14), ergänzt durch eine geheime
Rückendeckung gegen Frankreich (12).
Noch 1870 erscheinen Frankreich und (England in der gleichen Rolle
(30, 31), dann aber ändert sich das Bild. Frankreich allerdings verfolgt mit
immer gleicher Zähigkeit, nur mit veränderten Mitteln, sein altes Ziel, trotz¬
dem aber hört es auf, für (England den gefährlichsten Gegner zu bedeuten, und
Deutschland tritt an seine Stelle. Wie aber infolge dieses entscheidenden Front¬
wechsels die englische Politik Belgien gegenüber ihr Gesicht verändert (32),
fällt auch mit dem am stärksten interessierten Garanten die belgische Neutra¬
lität selbst (33).
Das Bild des innerbelgischen Staatslebens erhält nach außen hin fein Ge¬
präge durch eine glänzende wirtschaftliche Entwicklung (21, 23), die nur durch
einen ungesunden Staatshaushalt beeinträchtigt wird (22). Daneben fehlt es
auch sonst nicht an starken Schattenseiten. Unmittelbar aus seinen natürlichen
Grundlagen und seiner Geschichte erwächst für Belgien die Belastung mit der
Nationalitätenfrage. Anfangs von der französisch-wallonischen Minderheit
vergewaltigt (15), erwacht i>as vlämische (Element bald zu politischem Leben
(16) und erzwingt sich, im Bewußtsein seiner gerechten Ansprüche (18), Be¬
rücksichtigung (17)'aber der Widerstand der vielfach nach Frankreich hin orien¬
tierten Wallonen ist so stark (20), daß an diesen Gegensätzen der innere Be¬
stand des Staates aus den Fugen zu gehen droht (19). Die ungünstige Lage
der arbeitenden Klassen (24), das unmittelbare Gegenbild des gewaltigen
industriellen Aufschwungs, sind allerdings bedeutende Kräfte zu bessern be¬
strebt (25, 26). Aber schon an der parteimäßigen Schichtung und Sonderung
dieser Bestrebungen wird ein weiteres und gleich gefährliches Hemmnis ge¬
deihlicher (Entwicklung sichtbar: die starke Zerklüftung des Parteilebens. Um
so stärkere Angriffspunkte die herrschende klerikale Partei, besonders in der
Schulfrage (27, 28), bietet, um so erbitterter wird der Widerstand der Oppo¬
sitionsparteien, der bereits zu dem das wirtschaftliche Leben aufs stärkste in
Mitleidenschaft ziehenden Mittel des Generalstreiks gegriffen hat (29).
Bei dieser beträchtlichen innerpolitischen Belastung ist der belgische Staat
um so weniger imstande, einen wirklichen Nutzen aus dem Erwerb seiner ge¬
waltigen Kolonie (34) zu ziehen (35), der ihn zudem nur aufs neue in die
Welthändel verstricken mußte (36), denen die Neutralisierung das Land hatte
entrücken sollen.
Meuniers plastisches Werk „Bergmann" (mineur) wieder.