192
II. Die unteren Gottheiten.
Mernesis,
auch AdraKea, und uach dem Hauptorte ihrer Verehrung,
Rhamnus in Attika, Nhamnusia genannt, die Rächerin, die
Unentfliehbare, die Bergelterin alles Unrechtes, war
die Göttin der Strafgerechtigkeit, daher ihr Bild neben
den Richterstühlen aufgestellt wurde. Man dachte sich eine dunkle
Macht, welche das Schickliche vertrat, daher auch das Betragen
der Menschen in ihrem Glücke richtete, den Frevel bezähmte, das
Glück der Unwürdigen herabsetzte, jedes Unrecht an dem Urheber
rächte, und so alles im Gleichgewichte erhielt. Indem man diese
Idee personifizierte, stellte man die so gebildete Göttin der Straf¬
gerechtigkeit, unter der Benennung Nemesis, als eine gedanken¬
volle, sinnende und schöne Frau vou königlichem Ansehen, mit
einer Stirnbinde oder Krone geschmückt, oder auch geflügelt,
oder auf einem Wagen von Greifen gezogen, dar, und gab ihr
verschiedene Attribute, z. B. ein Rad, als Symbol der Schnelligkeit,
mit der sie ihre Strafen vollzieht, oder eine Wage, eine Elle,
einen Zaum oder ein Joch, ein Steuerruder, eine Geißel, ein
Schwert. Alljährlich feierte man zu Athen uud zu Smyrna be¬
sondere Feste, Nerneseen genannt, unter öffentlichen Sühnopfern
an Nemesis, um sich dereu Gunst zu versichern. Bei den Römern
war sie als griechische Gottheit aufgenommen, und auf dem
Kapitole geweiht, um die Wirkungen des Neides zu vernichten.
Die Mythe nennnt bald den Erebos, bald den Okeanos
ihren Vater, bald den Zeus ihren Geliebten, und Helena wird
ihre Tochter von Zeus genannt
Sie soll drei Dienerinnen zum Vollstrecken ihres Willens
gehabt haben, die Dike, Pörm und Erinys (die Gerechtigkeit,
Strafe und Rache). Schrecklich wie Nemesis dem Schuldigen
war, erkannte man in ihrem Wirken für die Erhaltung des Gleich¬
gewichtes der menschlichen Schicksale sinnig die waltende Liebe,
weshalb sie auch mit den Chariten vereinigt wurde. In Smyrna
verehrte man mehrere Wesen der Nemesis als beflügelte Dämonen.