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Das Wrsen und die Kcdcutung
den Göttern sehr einfach auf den Konflikt verschiedener Naturkräfte,
wie Licht uud Dunkel, Hitze und Kälte u. s. w., zurückführen, während
das freundliche Zusammenwirken zweier Kräfte, wie z. B. Wärme
uud Feuchtigkeit, bildlich bald als geschwisterliche, bald auch als
geschlechtliche Liebe dargestellt wird. Es kommt also überall dar¬
auf an, den Sinn der bildlichen mythologischen Ausdrücke zu ver¬
stehen; wo wir dies vermögen, werden wir von unsittlichem und
schlechtem nicht mehr reden und nur unverstandene Mythen werden
uns sittlich tadelnswert scheinen.
Hierbei will ich nicht unbemerkt lassen, daß die Alten selbst
in Zeiten, welche der Entstehung der meisten Mythen um Jahr¬
hunderte folgten, den Sinn mancher Erzählungen nicht mehr ver¬
standen, und daß manche der Edelsten und Besten unter ihnen die
eben deswegen unsittlich erscheinenden Erzählungen von den Göttern
als Erdichtung urtd Verleumdung verwarfen, während andere den
alten Sagen einen neuen, ihrer Bildungsstufe entsprechenden Sinn
unterzulegen suchten. Je weiter auf diesem Wege die griechische
Religion sich fortbildete, um so weiter entfernten sich die Götter
von der Natur uud von ihrer ursprünglichen Bedeutung, um so
mehr wurden sie zu rein geistigen Wesen.
Je weiter aber dieser Umbildnngsprozeß fortschritt, desto mehr
mußte von dem alten Glauben und von den alten Sagen auf¬
gegeben werden, und da trotzdem die Götter ihren Ursprung nie
ganz verleugnen konnten, so ergaben sich daraus eine Menge von
Zwiespältigkeiten und Widersprüchen, eine Fülle von Verwirrung
und Willkür in der Auffassung der Religion, welche endlich zu
deren Auflösung und zum Verfalle des Heidentums führen mußte
und geführt hat. Demgemäß ist wohl festzuhalten, daß die Grie¬
chen und Römer auch nicht alle und zu allen Zeiten alles das
glaubten, was die gesamte Götterlehre dieser Völker umfaßt und
Sie im nachfolgenden erzählt finden, und daß die Aufgeklärten
unter ihnen, besonders die Philosophen, d. h. Weltweisen, wie
Sokrates, Plato u. a. m., es dem großen Haufen des Volkes
überließen, sich daran zu halten, weil diesem etwas nötig ist, was