Die Religion der alten Germanen. 21 
übten. Velleda, jene Jungfrau, die fast göttlich verehrt wurde und die auf 
die Unternehmungen des Volkes den höchsten Einfluß hatte, war durch glück¬ 
liche Vorhersaguugen zu ihrer wichtigen Stellung gelangt. Im Frieden 
und im Kriege ward die geheime Kunst dieser Frauen gesucht, und was sie 
ans dem Lose, aus dem rinnenden Opferblute oder andern Zeichen er¬ 
schauten, bestimmte oft mehr als der Rat erfahrener Männer die Unter¬ 
nehmungen. Die Cimbern ließen ihre Priesterinnen aus dem Blute der ge¬ 
opferten Kriegsgefangenen das Gefchick deuten, Ariovist machte feine Unter¬ 
nehmungen von dem Ausspruche weiser Frauen abhängig. 
Besonders beliebt war bei diesem Schicksalerforschen das Los. Bnchen- 
stäbe, in welche Zeichen geritzt waren, wurden auf ein weißes Tnch ge¬ 
worfen, und mit Gebet und Blick zum Himmel hob der Priester oder die 
Priesterin drei Stäbe auf, aus denen sie den Willen der Götter lasen. Es 
setzt dies die Kunde vom Lefen und Schreiben bei den Frauen voraus, was an 
und für sich nichts Geheimnisvolles war, denn die Runen waren keine Ge- 
heim- oder Priesterschrift; sie wurden es erst durch die Unwissenheit der 
Menge. Dazu kernt, daß die Runen vielfach bei heiligen Geschäften uud 
ait göttlichen Sinnbildern und Geräten gebraucht wurden, und daß das 
Ritzen dieser Zeichen öfters eine Art Gottesdienst war. Der Name der 
Gottheit, welcher auf das bevorstehende Unternehmen oder die gewünschte 
Sache besonders einflußreich war, wurde beim Einfchneiden der Zeichen ge¬ 
nannt oder ein längeres Gebet gesprochen. Die Runen wurden aus den 
zu schützenden Gegenstand oder auf eine Sache, welche zum Zwecke irgend 
in Beziehung stand, geritzt. Oft konnte eine einzige Rnne hinreichen, da 
dieselben alle eine sinnliche oder geistige Bedeutung haben, z. B. N = 
Not, F = Vermögen, H = Hagel, T = Tyr, der Kriegsgott. 
Die Weissagung und das Gebet, das sich ihr beim Runengebrauche 
verbindet, waren nicht die einzigen gottesdienstlichen Pflichten der Prieste¬ 
rinnen. Auch Gesang uud Tauz gehörten zum Kultus. Zwar läßt sich 
aus dem Altertume selbst kein ausdrückliches Zeugnis dafür beibringen, 
aber fpätere Volksgebräuche sprechen dasür, und noch heute ist manche Spnr 
des alten Brauches im Volksleben zu entdecken. Wenn die Hausfrau zur 
Wintersonnenwende oder zur Fastnacht, damit der Flachs gedeihe, tanzen 
und springen muß, wobei sie bestimmte Worte zu sprechen hat, so hat das 
für den Rest eines Kultus der Erdgöttiu zu gelten, welchen die Hausmutter 
als Priesterin zu verwalten hatte. Der Tanz und Gesang der Schnitter 
zu Ehren des „Wode" nach vollendeter Ernte ist ein Teil des Wodankul- 
tns, zu dem es auch gehört, wenn man bei der Ernte das „Wodenbüschel" 
oder den „Wodenteil" für das Roß des Wodan auf dem Felde stehen 
läßt. Der Psingsttanz galt ursprünglich der Frühlingsgottheit. 
Zu den priesterlichen Thätigkeiten gehört auch das Opferu. Es gab 
Menschen-, Tier- und Frnchtopfer. Bei allen drei Arten waren auch 
Priesterinnen geschäftig, denn sie verrichteten cinch Menschenopfer, wie das 
die cimbrifchen Priesterinnen beweisen. Das Sieden der Opsertiere gehörte
	        
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