Rechtszustände im Mittelalter. 375
gab er ihm Gewalt über Fische, Vögel und wilde Tiere, daher kann nie¬
mand seinen Leib an diesen Dingen verwirken, aber der König giebt den
wilden Tieren an bestimmten Orten durch seinen Bann Frieden. Die Welt
wird durch zwei Gewalten regiert, die weltliche und die geistliche: von den
zwei Schwertern, welche Christus auf der Erde zurückließ, um die Christen¬
heit zu beschirmen, gehört dem Papst das geistliche und dem Kaiser das
weltliche. Der Papst reitet zu bestimmten Zeiten auf einem weißen Pferde,
und der Kaiser soll ihm den Steigbügel halten, damit sich der Sattel nicht
verschiebe. Das ist ein Zeichen dafür, daß wenn sich ein Widerstand gegen
den Papst erhebt und er ihn mit dem geistlichen Recht nicht zu heben ver¬
mag, der Kaiser mit seinem weltlichen Recht ihm den Gehorsam erzwinge.
Und ebenso soll auch die geistliche Gewalt der weltlichen helfen. Beide
Gewalten sollen also in Eintracht nebeneinander bestehen, jede hat ihren
eigenen Kreis, und keine ist der andern übergeordnet. Daher darf der Papst
mit seinen Geboten nicht das weltliche Recht umändern und kann den Bann
gegen den Kaiser nur aussprechen, wenn er an dein rechten Glauben zweifelt,
sein eheliches Weib verläßt oder Gotteshäuser zerstört. Der König ist der
gemeine Richter überall und richtet auch über Leib und Leben der Fürsten;
aber er ist nicht Herr alles Rechtes, sondern selbst dem Gesetz unterworfen
und verantwortlich. Er muß vor dem Pfalzgrafen zu Recht stehen und
kann feinen Leib verwirken, nachdem ihm das Reich durch Urteil aberkannt
ist. Da er nicht überall in seinem Reiche sein und nicht jedes Urteil richten
kann, so setzt er Grafen und Schultheißen ein, welche von ihm ihre Ge¬
walt haben.
Eike führt das sächsische Recht auf Karl den Großen zurück: Karl
bestätigte den Sachsen all ihr Recht, soweit es nicht gegen die christlichen
Gebote und den Glauben verstieß; er mußte ihnen auch gegen seinen Willen
einzelne Rechtssätze, welche das Erbrecht, den Beweis und das Urteilschelten
mit Zweikampf betreffen, laffen.
Der Sachsenspiegel, welcher, im Norden Deutschlands entstanden, der
erste Versuch ist, das gesamte geltende Recht darzustellen, entsprach so sehr
dem Bedürfnis der Zeit, daß er sich im Norden schnell verbreitete und
anderen Arbeiten zu Grunde gelegt wurde. Als Papst Gregor XI. eine
Reihe von Sätzen des Sachsenspiegels verdammte, schickte er die betreffende
Bulle an die Erzbischöfe von Köln, Mainz, Bremen, Magdeburg und Riga,
weil in deren Sprengeln der Sachsenspiegel als Recht galt. Noch am Ende
des Mittelalters sprach man auf dem Reichstage von 1498 die Überzeugung
aus, daß der dritte Teil Deutschlands nach dem Sachsenspiegel lebe. Aber
auch in Süd-Deutschlaud saud der Sachsenspiegel Verbreitung, und bei den
Rechtsbüchern, deren Abfaffnng iitcm mit besonderer Beziehung auf das hier
geltende Recht unternahm, wurde er in Stoff und Anordnung benutzt.
Zwei süddeutschen Rechtsbüchern liegt der Sachsenspiegel zu Grunde: dem
„Spiegel deutscher Leute" und dem „Schwabenspiegel". Das erstgenannte
scheint wenig Einfluß erlangt zu haben und namentlich durch das letztge-