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Das Gute und tue Gottähnlichkeit.
kehren kann, nach welchen er während seines Erdenlebens wie in bestän¬
digem Heimweh sich zu sehnen nicht aufgehört hat.
Wenn auch Plato anerkannte, daß die Menschen überhaupt ver¬
schieden an Fähigkeiten und so auch ungleich in der Willenskraft zur Welt
kommen, so glaubte er darum doch nicht, daß die Rechtschaffenheit des
einen und die Unsittlichkeit des andern schon vorausbestimmt sei und der
Mensch nichts dabei thun könne. Im Gegensatze zu dieser Ansicht, durch
welche er die Zurechnung des Bösen aufgehoben haben würde, nahm er
an, daß der Wille und eigene Wunsch des Menschen auf die Gestaltung
seines innern Wesens den größten Einfluß habe. Er glaubte, daß die
Tugend ein Wissen sei und daß sie darum einer vom andern lernen könne.
Ebenso erklärte er es für eine allgemeine Pflicht des Menschen, darauf zu
sehen, daß die niedern Kräfte seines Wesens der Vernunftthätigkeit unter¬
geordnet seien. Wir sind, sagt er, der Gottheit Eigentum. Deshalb
dürfen wir nicht willkürlich von dem Posten abtreten, auf den wir in
diesem Leben gestellt sind, sondern müssen vielmehr unsere Lebenszeit dazu
anwenden, die Zwecke zu fördern, zu deren Erreichung Gott uns erschaffen
hat. Die Richtung und Bewegung unseres Geistes stimmte vor der Ver¬
bindung mit dem Leibe vollkommen zusammen mit dem Gange der gött¬
lichen Weltordnung; durch die Leiblichkeit ist diese Übereinstimmung ge¬
stört worden; aber unsere Pflicht ist es, sie durch aufmerksame Betrachtung
des göttlichen Waltens in der Welt wieder herzustellen und so ans wissen¬
schaftlichem Wege unsern Geist in den ersten vollkommeneren Zustand
zurückzuversetzen. Dies geschieht, indem wir Gott ähnlich zu werden suchen
in vernünftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit: der rechtschaffenste Mensch ist
das ähnlichste Bild Gottes. Diese Erkenntnis ist die wahre Weisheit und
Tugend, wie die Unwissenheit hierüber sich als Geistesarmut und Schlech¬
tigkeit erweist. Wer Gottes Freuud werden will, muß notwendigerweise
ihm nach Kräften ähnlich werden. Wir sehen an Gott, was und wie
der Mensch sein soll. Daher blickt der Mensch, welcher wahrhaft glücklich
werden will, in Demnt auf die göttliche Gerechtigkeit und nimmt sich in
Acht, daß ihre Strafe ihn nicht treffen möge. Der Unverständige da¬
gegen, voll thörichten Stolzes auf Geld, Ehre oder (Schönheit, gebärdet
sich oft, als bedürfte er keiner höheren Leitung und als könnte er selbst
sein Führer sein: er lebt ohne Gott in der Welt und gefällt sogar noch
manchen Leuten mit dieser trotzigen Selbständigkeit, richtet auch mit sei¬
nem Übermut allerlei Unheil in der Welt an. Aber solche Menschen er¬
eilt bald die göttliche Strafgerechtigkeit und sie ziehen noch andere, ihre