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A. Erzählende Prosa. V. Geschichtliche Darstellungen.
51. Drusus Germanicus. (9 v. Chr)
Von Ferdinand Bäßler. Sagen aus der Geschichte des deutschen Volkes. Berlin, 1855.
Der römische Kaiser Augustus sandte seinen Stiefsohn Drusus, den
die Römer nachmals mit dem Beinamen Germanicus ehrten, an den Rhein
mit dem Auftrage, das jenseitige Germanien dem römischen Reiche zu ge—
winnen. Was der große Cäsar nicht unternommen hatte, das schien diefer
Jüngling glücklich zu vollbringen. Unaufhaltsam drang er an der Spitze
seiner Legionen in das Land der Katten ein und rückte bis zu den Sueven
vor. Das Land, das er durchzog, unterwarf er, aber nicht ohne große
Auslrengungen; die ihm entgegentraten, schlug er, aber nicht ohne blutige
Kämpfe. Von da wandte er sich gegen die Cherusker, ging über die Weser
und gelangte, alles verheerend, im schnellen Zuge bis an die Elbe. Auch
diesen Fluß, der auf dem vandalischen Gebirge entspringt und in bedeutender
Breite uden nördlichen Ozean mündet, versuchte er zu überschreiten, brachte
es aber nicht zustande. Ein Weib nämlich von übermenschlicher Größe trat
ihm entgegen und sprach: „Wohin eilst du, unersättlicher Drusus? Das
Schicksal vergönnt dir nicht, dies alles zu schauen. Kehr' um! Denn deiner
Taten und deines Lebens Ende ist nahe herbeigekommen.“ Durch diese
Erscheinung erschreckt, stand Drusus von seinem Vorhaben ab, richtete ein
Siegeszeichen auf zum Denkmale, wie weit in feindliches Land er die römischen
Waffen getragen hatte, und kehrte eilends um. Aber bevor er den Rhein
erreichte, stürzte er mit seinem Rosse und brach den Schenkel. Während er
nun krank daniederlag, umschweiften Wölfe zum Vorzeichen seines nahenden
Todes das Lager; man sah zwei unbekannte Jünglinge mitten durch den
Lagergraben reiten und hörte in den Lüften ein Jammergeschrei wie von
weiblichen Stimmen. Dreißig Tage nach jenem Unfall war der Stolz und
die Hoffnung Roms eine Leiche.
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52. Otto der Große.
Von Wilhelm Giesebrecht.
Geschichte der deutschen Kaiserzeit. Braunschweig, 1860.
a) Die Krönung.
Am 8. August des Jahres 936 stand in der Säulenhalle zu Aachen,
welche die Kaiserpfalz mit dem Münster verband — beide hatte Karl der
Große erbauen und Marmor und Säulen dazu aus Rom und Ravenna
herbeischaffen lassen — der Marmorstuhl Karls des Großen, der Erzthron
des Reiches; hier versammelten sich die Großen aus allen deutschen Landen,
erhoben Otto auf den Thron und gelobten ihm unter Handschlag Treue
auf immerdar und Beistand gegen alle seine Widersacher. So huldigten