— 191 —
wurde, differenzierte sich nach der ungleichartigen volkstümlichen
Unterlage, die die Römer schon angetroffen hatten, und nach dem
verschiedenen Beisatz, den sie jetzt von den Germanen erfuhr:
so gingen aus dem Gebrauch der lateinischen Sprache die mannig¬
faltigen Dialekte der „Romanen" hervor, deren Stammbaumund
Eigenart zu erforschen unsere romanistische Wissenschaft jetzt
beflissen ist.
Dabei wäre es unbillig, nicht auch der Rumänen Erwäh¬
nung zu thun, d. H. der Romanen Jllyricums, deren Sprache
im Laufe der Vökerwauderungsepoche und durch ihre Nachwir¬
kungen mit slavischen Elementen imprägniert wurde; und zwar
so bedeutend, daß zwei Fünftel des Wortschatzes im Rumänischen
slavisch, und nur ein Fünftel lateinisch ist. Aber Flexion, Syn¬
tax u. s. w. verweisen auch das Rumänische, das gegenwärtig von
vielleicht 8 Millionen Menschen in den unteren Donauländern
gesprochen wird, in die Reihe der romanischen Idiome. —
So hat der kräftig emporwuchernde und von den fremden
Einwanderern befruchtete Provinzialismus über die Gesamtstaats¬
idee des römischen Reiches, wenn auch nach langen Kämpfen,
obgesiegt; bis die letztere in der Form des römisch-fränkischen
Kaisertums neuerdings in den Vordergrund der Weltgeschichte
trat. In der alten Weise realisiert werden konnte diese Idee
indessen nicht, es war der Widerstand der anderen Staaten, die
ihre Souveränität behaupteten, zu groß: jedes einzelne europäische
Staatswesen verfolgte seine Sonderzwecke und hatte seine eigene
„auswärtige" Politik, während das altrömische Kaisertum durch
das Gewicht und das Übergewicht seiner drei Erdteile einen eben¬
bürtigen Gegner gar nicht hatte aufkommen lassen.
Aber gleichwohl betrachteten alle diese Staaten sich auch wieder
unter einander als eine ideelle Einheit, da sie von demselben
Stamme, dem einstigen römischen Weltreiche, sich abgezweigt
hatten. Die Keime, welche die römische Periode gelegt hatte,
wirkten fort: die einheitliche Religion, welche in derselben ent
wickelt worden war, bildete ein Band um alle Glieder, auch um