44
III. Fabeln.
1(6. Der Geizige.
Gotthold Ephraim Lessing. Sämtl. Schriften. Herausg. v. Lachmann. 2. Band. Leipzig.
„Ich Unglücklicher!" klagte ein Geizhals seinem Nachbar. „Man
hat mir den Schatz, den ich in meinem Garten vergraben hatte, diese
Nacht entwendet und einen verdammten Stein an dessen Stelle gelegt."
„Du würdest", antwortete ihm der Nachbar, „deinen Schatz doch
nicht genutzt haben. Bilde dir also ein, der Stein sei dein Schatz,
und du bist nichts ärmer."
„Wäre ich auch scholl nichts ärmer," erwiderte der Geizhalz, „ist
eül andrer nicht um so viel reicher? Ein andrer um so viel reicher?
Ich möchte rasend werden."
\7. Die wohltaten.
Gotthold Ephraim Lessing. Sämtl. Schriften. Herausg. v. Lachmann. 2. Band. Leipzig.
„Hast du lvohl einen größer» Wohltäter unter den Tierell als
ulls?" fragte die Biene den Menschell.
„Ja wohl!" erwiderte dieser.
„Und wen?"
„Das Schaf! Denll seine Wolle ist mir llotwendig, und dein
Honig ist mir nur angenehm.
Uild willst du noch einen Grund wissen, warum ich das Schaf
für meinen größern Wohltäter halte als dich, Biene? Das Schaf
schenkt mir seine Wolle ohne die geringste Schwierigkeit; aber wenn
du mir deinen Honig schenkst, muß ich mich noch immer vor beinern
Stachel fürchten." _
J8. Der Hund und das Schaf.
Martin Luther als deutscher Klassiker. Frankfurt a. M.
Der Hulld sprach ein Schaf vor Gericht an um Brot, das er ihm
geliehen hätte. Da aber das Schaf leugnete, berief sich der Hund auf
Zeugen: die mußte man zulassen. Der erste Zeuge war der Wolf;
der sprach: „Ich weiß, daß der Hund dem Schaf Brot geliehen hat."
Der Weihe sprach: „Ich bin dabei gewesen." Der Geier sprach zum
Schaf: „Wie darfst du das so unverschämt leugnen?" Also verlor
das Schaf stille Sache mld mußte mit Schaden zur unebenen Zeit
seine Wolle angreifen, damit es das Brot bezahle, das es nicht schuldig
gewordell war.
Hüte dich vor bösen Nachbarll oder schicke dich auf Geduld, willst
du bei Leuten wohnen! Denn es gönnet niemand dem andern etwas
Gutes. Das ist der Welt Lauf.