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bazos schickte Leute aus, ihn gefangen zu nehmen. Diese aber scheuten den
berühmten Feldherrn so, daß sie sich nicht an ihn wagten. Sie zündeten sein
Haus an und töteten ihn, als er dasselbe verließ, aus der Ferne mit ihren
Pfeilen. Dann beraubten sie den Toten und ließen ihn liegen. Eine arme
Frau, die ihn im Leben gepflegt hatte, bestattete ihn zur Erde.
Wenige Jahre nach dem Sturze der Tyrannen mußte Sokrates den Gift¬
becher trinken (399). Seine Feinde, dieSophisten, deren Prunken mit Gelehrsamkeit
er bei jeder Gelegenheit tadelte, verklagten ihn als einen Verächter der Götter und
einen Verderber der Jugend. Sokrates verteidigte sich selbst mit männlicher
Entschiedenheit, aber er beleidigte die entarteten und an Schmeicheleien ge¬
wöhnten Richter, indem er auf ihre Frage, welche Strafe er glaube verschuldet
zu haben, antwortete, er sei ebenso gut wie andere um den Staat verdiente
Männer wert, im Prytaneum gespeist zu werden. Als es zur Abstimmung
kam, wurde er mit geringer Mehrheit zum Tode verurteilt. Die Strafe durfte
nach dem herrschenden Gebrauche nicht vollzogen werden, bis das Schiff, welches
alljährlich zu dieser Zeit Opfergaben nach Delos brachte, zurückkehrte. Diese
Zwischenzeit verbrachte der Weise im Gefängnisse auf die möglichst beste Art.
Fast immer hatte er Schüler um sich, mit denen er sich über die höchsten Dinge,
wie über die Unsterblichkeit der Seele, unterhielt. Mehrmals wurde ihm Ge¬
legenheit zur Flucht geboten, aber er wies jedes derartige Ansinnen streng mit
der Erklärung zurück, daß niemand das Recht habe, den Gesetzen des Staates
ungehorsam zu sein. Ich verlange, daß man mich für unschuldig erklärt und
hinausführt, sagte er; entflöhe ich, so würde ich mich damit schuldig bekennen.
Als ihm der Giftbecher gebracht wurde, nahm er heiter Abschied von seinen
Freunden, denn er betrachtete den Tod als eine Genesung der Seele. Hierauf
ging er, wie der mitleidige Kerkermeister ihm geraten, ans und ab, bis er
Müdigkeit spürte. Ruhig legte er sich dauu nieder und sprach sterbend zu einem
seiner Freunde: „Wir sind dem Asklepios (dem Gotte der Heilkunde) einen Hahn
schuldig." Unter den Trauernden befand sich auch seine Frau Xanthippe. Sie
war eine sorgsame Hausfrau uud liebevolle Mutter, nur zuweilen etwas launen¬
haft und verdrießlich, wie es wohl kaum anders sein konnte, da ihr Mann von
seinen Schülern keine Bezahlung annahm. Diese Verdrießlichkeit hat ihr
jedoch bei der Nachwelt sehr geschadet, bis heute ist ihr Name die sprichwört¬
liche Bezeichnung für böse Weiber geblieben. Vieles hatten die Athener in
der letzten Zeit zu bereuen gehabt, aber nichts war ihnen schmerzlicher als die
Erinnerung an den Tod des weisen Sokrates. Der Hauptankläger wurde
hingerichtet, und als einst im Theater die Verse des Euripides vorgetragen
wurden: „Getötet habt ihr, ja getötet, Danaer, der Musen weiseste, unschuldge
Nachtigall", brachen alle in Thränen aus. So tief rührte in der Zeit tiefster
Entartung die aufrichtige Tugend die Herzen der Menschen. — Sokrates hat
nichts ausgezeichnet; die wunderbare Einfachheit und Tüchtigkeit feiner Philo¬
sophie brachte es mit sich, daß er das Urteil darüber, was wahr und recht sei,
niemandem als ein fertiges aufdrang, sondern nur die Kraft seiner Schüler
übte, es aus dem innersten Geistesleben selbst zu erzeugen. Darum erschien
ihm die Inschrift über dem Eingänge des Tempels zu Delphi: Erkenne dich
selbst! als die höchste Weisheit. Aber seine Schüler Xenophon uud Plato
haben manche seiner gehaltvollen Gespräche ausgeschrieben. Plato war im
zweiten Jahre des peloponnesischen Krieges in Athen geboren. Nach Sokrates'