84 Deutsche Mystik im H. Jahrhundert. 
Entbehrungen auflegen zu wollen. Ihre Tafel war nicht schlecht besetzt, 
sie hatten ihr Silbergeschirr, ihren Schmuck, ihre Dienerinnen, sie luden 
sich Gäste zu Tische, unternahmen Badereisen, und kein Gelübde trennte 
sie auf ewig von allein irdischen Glück. Aber das einfache graue wol¬ 
lene Kleid und der lange Schleier deuteten auf Weltverfchloffenheit, und 
sie wurden gerühmt als „gar schweigsame, einfältige, gutherzige Frauen 
von großem inwendigen Ernst, so daß ihnen Gott gar heimlich war mit 
seiner Gnaden". Im Vereine mit erleuchteten Predigern forschten tiefere 
Naturen nach dem Ewigen. 
Für diese Kreise war es ohne Zweifel ein Ereignis, als der berühmte 
Philosoph und Mystiker Meister Eckard, ebenfalls ein Dominikaner, um 
das Jahr 1312 nach Straßburg kam. Eckard war vermutlich ein Lands¬ 
mann Luthers und um das Jahr 1260 geboren. Als Prior von Erfurt 
lernen wir ihn znerst kennen. Seine Studien hat er in Köln und Paris 
gemacht, dann hohe Vertrauensposten des Ordens bekleidet, jetzt übernahm 
er das Lehramt an der Ordensschule in Straßburg und blieb hier etwa 
bis 1317, um nachher demselben Berufe noch in Frankfurt und später in 
Köln obzuliegeu, wo er 1327 starb. Wenige Jahre vor seinem Tode haben 
Johannes Tanler von Straßburg und Heinrich Suso vou Konstanz zu 
seinen Füßen gesessen und sind dann eifrige Verbreiter seiner Lehren ge¬ 
worden. 
Die Kirche hat nach Eckards Tode mehrere seiner Lehrsätze, denen sie 
ketzerischen Sinn beimaß, verdammt. Wir bewundern an Eckard die Energie 
des Denkens, die es wagte, den kirchlichen Gedankenkreis in zum Teil origi¬ 
neller Weise spekulativ zu verarbeiten, wir bewundern sein Sprachgefühl, 
welches deutschem Wort und Laut das Gebiet der abstrakten Gedanken gauz 
neu eroberte, wir bewundern die Energie des Charakters, die mit der Wucht 
der schwersten philosophischen Lösungen sich nicht innerhalb des kleinen 
Kreises der Gelehrten hielt, sondern frei und mutig vor die Welt trat. 
Meister Eckard ist der Ahnherr der deutschen Philosophie, der Philosophie 
in deutscher Sprache, und er ist der Ahnherr des deutschen Mystizismus. 
Der Mystizismus ist eine der vielen Formen, in denen das Christen¬ 
tum gegen die Sinnlichkeit ankämpft und den Versuch macht, des Menschen 
Leib zu einem überflüssigen, höchst schädlichen Anhängsel der Seele herab¬ 
zudrücken. Wenn sich Nonnen zu Unterlinden in Colmar in stetem Still¬ 
schweigen übten und selbst vom Auge nur beschränkten Gebrauch machen 
wollten, um nicht durch den Anblick der Welt abgezogen zu werden von der 
frommen Versenkung des Geistes — wenn andere sich einbildeten, sie hätten 
es durch anhaltendes Weinen und Seufzen vor dem Marienbilde dahin 
gebracht, daß das Jesuskindleiu zu ihnen redete und ihnen Ablaß der 
Sünden versprach — wenn man der allerfrömmsten nachrühmte, sie werde 
zuweilen mehrere Fuß hoch über der Erde schwebeud erblickt: so befanden 
sich diese Nonnen mit dem Geiste des mittelalterlichen Christentums in 
vollkommenster Übereinstimmung. Auch Meister Eckard hat den phantasti-
	        
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