Deutsche Mystik im 14. Jahrhundert. 85
scheu Erzeugnissen überreizter Frauennerven den Zoll seiner tiefen und erust-
, licheu Achtung entrichtet. Nur konnte sich der Gelehrte bei den Ergebnissen
von Visionen und Träumen nicht beruhigen. Er mußte sich auseinander¬
fetzen mit dem gegebenen Dogma. Er sncht einzudringen in das Geheim¬
nis der Dreieinigkeit, er grübelt über das Rätsel der Erlösung, er sinnt
nach über die beziehungsreichen Begriffe des Gottmenschen, des Menscheii-
sohns, des Mittlers zwischen Gott und Menschheit. Und das bringt ihn
auf gar verwegene Ideen.
Die Gottheit erscheint ihm wie ein unendliches Meer von uner¬
gründlicher Tiefe, und auf ihrem Grunde ruhen von Ewigkeit her alle Krea¬
turen. Doch ruhen sie da als bloße Möglichkeiten, wie nngefchaffenc
Kunstwerke im Geiste des Künstlers, bis ein Willensakt des Schöpfers sie
emporruft.
Diesem stillen unergründlichen Wesen der Gottheit nun kann die mensch¬
liche Seele gleich werden. Denn ihr ist von ihrem Ursprung her ein Fi'mk-
lciit der göttlichen Herrlichkeit geblieben. Wenn sie sich alles Irdischen
abthut, wenn sie in völlige Armut des Leiblichen versinkt, wenn alles Zeit¬
liche für sie tot ist, wenn sie mit aller Macht im höchsten Maß erfolgreich
jenen Kampf gegen den Körper durchführt, so offenbart sich der dreieinige
Gott in ihr, oder fo wird — wie sich Eckard ausdrückt — der ©ohn Gottes
iu ihr geboren. „Der Mensch kann das erringen durch Gnade, was
Christus hatte von Natur; ein solcher Mensch ist Gott und Mensch." Ans
diese Weise ist Christus das Vorbild des menschlichen Lebens, so können
wir Christo nachfolgen.
Eckard malt einen idealischen Zustand aus, iu welchem des Menschen
edelster Trieb, die feinste, die oberste Kraft seiner Seele aufgeht iu Gott.
Wie das Feuer alles in Feuer verwandelt, was ihm zugeführt wird, so
verwandelt Gott uns in Gott. Die Seele wird mit der Gottheit vereint,
so daß sie in ihr nicht mehr als ein besonderes Wesen gefunden werden
kann, so wenig wie ein Tropfen Wein mitten im Meer.
So beschaffen waren die Lehren, welche der gefeierte Dominikaner in
Straßburg vortrug und von hier aus zuerst in weitere Kreise verbreitete.
Groß waren die Wirkungen seiner Lehre. Die ganze folgende deutsche
Mystik beruht auf ihm.
Eine wachsende religiöse Bewegung durchbebte die oberrheinischen Lande
in den Jahren von Eckards Aufenthalt zu Straßburg bis in die Mitte des
Jahrhunderts. Miß wachs und Hungersnot, Bann und Interdikt im Kampfe
zwischen Kaiser und Papst, schließlich die Pest, das alles wies die Men¬
schen mehr als je auf ihr Inneres. Und sehr bemerkenswert ist die her¬
vorragende Rolle, welche die Laien dabei spielen.
Schon die Fahrten der Geißler sind ein Versuch religiöser Selbsthilfe,
worin man durch felbstauferlegte Not und Peinigung den zürnenden Gott
zu versöhnen und sich auf das nahe geglaubte Weltende vorzubereiten suchte.
Augenscheinlich hatten die kirchlichen Heilsmittel durch leichtsinnige Hand-