86 Deutsche Mystik im 14. Jahrhundert. 
habung ihren Wert in den Augen des Volkes verloren, und die Geißler 
schieden zwar nicht aus der Kirche, aber innerhalb derselben verfolgten sie 
ihren eigenen Weg. 
Nicht minder üppig wucherten iu bewußtem Gegensatz zur Kirche die 
ketzerischen Sekten. Straßburg war wie Köln immer ein Hauptquartier des 
mittelalterlichen Ketzertums gewesen. Im Jahre 1212 wurden Hunderte 
von Ketzern verbrannt, und die Dominikaner — damals noch eine Privat¬ 
gesellschaft — verdienter: sich bei der Gelegenheit als Ketzerrichter ihre ersten 
Sporen in Deutschland. Jene armen Lente waren tot, andere wuchsen 
uach, die Ketzerei war unausrottbar. Bald tauchen sie als „Ortlieber", 
bald als Brüder und Schwestern des freien Geistes auf, bald legt mau 
ihnen deu Nameu der Begharden und Beginen bei und bringt dadurch 
vorübergehend auch Verfolgung über die unschuldigen Beginen, wie sie oben 
geschildert sind. 
Jahrhunderte lang trieben solche Ketzer in Straßburg ihr Wesen. Sie 
gingen in langen Röcken, welche vom Gürtel an vorne herab ausgeschnitten 
waren, den Kopf bedeckten sie mit kleinen Kapnzen, die Weiber verhüll¬ 
ten ihn mit übergeschlagenem Mantel. So zogen sie durch die Straßen 
und erbettelten „Brot um Gotteswillen". Die freiwillige Armut erwarb 
ihnen allgemeine Teilnahme. Sie verbreiteten ihre Ansichten durch Lieder, 
Predigten und populäre Schriften, in denen sie die Gottheit Christi leug¬ 
neten, die Kirche für überflüssig erklärten, den Papst als das Hanpt alles 
Übels bezeichneten, die Sakramente und kirchlichen Zeremonien verwar¬ 
fen. Im 14. Jahrhundert haben sie sich Lehren Meister Eckards angeeignet, 
denen sie eine bedenkliche Wendung in ihrem Sinne zu geben wußten. 
Eckard setzt den Menschen in ein unmittelbares Verhältnis zu Gott, 
worin man nicht ersieht, was ihm Kirche, Priester, Sakramente, gute Werke 
weiter nützen sollen. Wer mit Gott innerlich vereinigt ist, was bedarf der 
noch zur'Seligkeit? Eckard erzählt einmal von einem feiner Beichtkinder, 
einer Schwester Katrei aus Straßburg, vielleicht einer frommen Begine, 
die durch freiwillige Armut, dadurch daß sie Familie unb Freunde verließ, 
auf Vermögen und Wohlleben verzichtete, dadurch daß sie sich der äußer¬ 
sten Entbehrung, der Verachtung der Menschen, der grimmigsten Verfolgung 
aussetzte — in einen solchen Zustand von Heiligkeit geraten sei, daß sie ihm 
selbst weit voraus war. Nach langen Tagen einsamer Betrachtung und 
Zurückgezogenheit kommt sie zu ihm mit den Worten: „Herr, freut euch 
mit mir, ich bin Gott geworden!" Er versetzt: „Dafür sei Gott gelobt! 
Gehe wieder von allen Menschen weg in deine Einsamkeit; und bleibst du 
Gott, so gönne ich es dir wohl." Sie ist ihrem Beichtvater gehorsam und 
begiebt sich in einen Winkel der Kirche. Da geschah es ihr, daß sie die 
ganze Welt vergaß und so weit außer sich gezogen wurde und aus allen 
geschaffenen Dingen, daß man sie aus der Kirche tragen mußte und sie 
drei Tage für tot lag. Wäre ihr Beichtvater nicht gewesen, man hätte sie 
begraben. Endlich am dritten Tage erwachte sie. „Ach, ich Arme," rief
	        
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